: Die vergessene Garnison
Kaum jemand weiß, unter welchen Bedingungen die Soldaten bei der Bewachung der Unfallzone des AKWs von Tschernobyl ihren Dienst ableisten ■ D O K U M E N T A T I O N
Die Zone von Tschernobyl. Siebentausend Quadratkilometer, die Tod ausstrahlen. Je nach dem Verseuchungsgrad durch Absperrungen in Zehn- und Dreißigkilometerzonen eingeteilt. Unbewußt erwartet man Dämmerung, Sumpf, eine Landschaft wie im Stalker.
Hier leben die „Liquidatoren“ - Soldaten und Reserveoffiziere, die für die Liquidierung des Unfalls eingesetzt sind, die „Stalker“ von Tschernobyl. Und außerdem: in der Zone bewacht ein Regiment der Streitkräfte des Innenministeriums die Absperrungen und das Atomkraftwerk. Einige Tausend Männer im Alter zwischen 18 und 20. Von ihnen weiß die Presse nichts, und die Fernsehjournalisten fahren ohne anzuhalten an den Kasernen und Wachposten vorüber. Das Schweigen ist perfekt. Ich erfuhr von ihnen völlig unerwartet, bin die Einheiten abgefahren und habe mich mit den Jungs und ihren Kommandeuren unterhalten.
Man braucht nicht noch einmal zu wiederholen, was über den Unfall im Kraftwerk geschrieben wurde, der Prozeß des radioaktiven Niederschlags setzt sich fort. Das Unheil, das sich zusammen mit dem radioaktiven Staub auf die Erde senkt, hat seine Ursache in unser aller Hauptunheil - in unserer Leidenschaft für Illusionen. Von den wichtigsten will ich berichten.
Erste Illusion: Die Folgen des Unfalls können liquidiert werden. Als Hauptmittel des „Kampfes“ mit den Radionukleiden gilt die Desaktivierung. Den Sinn dieser Prozedur muß man sich genau klarmachen. Es werden dabei radioaktiv verstrahlte technische Anlagen mit dem Spezialmittel SF-2U gewaschen. Diese Prozedur wird so oft wiederholt, bis sich der Strahlenspiegel einem zulässigen Niveau annähert. Falls dies nicht gelingt, wandern Autos, gepanzerte Transportfahrzeuge und Hubschrauber in die „Gräberfelder“.
Mit derselben Lösung werden auch Häuser und Straßen gewaschen, sie fließt dann auf die vielgeplagte Erde und auf die rötlichen Wegesränder. Folglich stehen dort Schilder: „Ausweichen auf die Straßenränder verboten“ und „Radioaktive Gefahr“. Wirklich, die Straßen werden sauberer und die Transportfahrzeuge stauben weniger ein. Aber die radioaktive Situation insgesamt ändert sich nicht. Die Teilchen werden lediglich von einem Ort zum anderen übertragen.
Zweite Illusion: Alle, die in der Zone Wehrdienst leisten, werden vor den Folgen der ionisierten Strahlung ausreichend geschützt. Diese Worte evozieren aus den Tiefen des Gedächtnisses das Bild eines Soldaten im Gummischutzanzug mit Gasmaske und einem quer umgehängten Maschinengewehr. Ein entzückender Anblick! Tatsächlich kann man in diesem Aufzug ohne Gesundheitsrisiko (wenn man einmal von einem Hitzschlag absieht) in Panzerfahrzeugen auf verseuchten Grundstücken herumflitzen. Nur schade, daß man diesen Anzug unmöglich 24 Stunden tragen kann und noch weniger darin arbeiten. Ja, und schließlich lädt er sich selbst radioaktiv auf und wird zu keiner geringeren Strahlungsquelle als die Baumwollkluft.
Die pharmakologischen Mittel wiederum, die zur Milderung des Verstrahlungsgrades und zur Ausscheidung verseuchter Stoffe aus dem Organismus gedacht sind, eignen sich aufgrund ihrer eigenen toxischen Eigenschaften wiederum nur zur einmaligen Anwendung.
Es bleiben also nur noch drei Mittel zur „Verringerung“ der verschluckten Dosis: Alkohol, grüner Tee und die schon seit den Zeiten von Hiroshima bekannte Zitrone.
Alkohol bindet ganz großartig die in verseuchten Zellen auftauchenden freien Radikale, aber er ist den Soldaten verboten. Tee stimuliert den Stoffwechsel und wird von den Soldaten in unbegrenzten Mengen zu sich genommen, größtenteils auf eigene Rechnung. Über die Zitronen, die die Vitamine C, P und W enthalten, ein wenig später.
Dritte Illusion: Nach Tschernobyl werden die schlechtesten Soldaten geschickt, die in anderen Truppenteilen zu nichts zu gebrauchen sind. Ein Soldat erzählte mir, daß er nach seiner Versetzung in das Tschernobyler Regiment von seinen Eltern Briefe bekam, in denen sich diese erkundigten, was für ein Verbrechen er denn begangen habe, daß man ihn derart bestrafe.
Verehrte Eltern, regt Euch nicht auf, in diesem Regiment dienen junge Männer, bei denen, als sie hier ankamen, keinerlei Defekte vorlagen, auch keine gesundheitlichen.
Vierte Illusion: Der Aufenthalt in der Zone zieht zur Zeit keinerlei schwerwiegende Folgen für die Gesundheit nach sich, weil der Strahlungspegel relativ niedrig ist. Was die schwere Strahlenkrankheit in ihrer klassischen Form betrifft, so haben die Autoren solcher Thesen recht. In der letzten Zeit ist sie hier wirklich nicht aufgetreten. In den Jahren 1986/87 sind allerdings Soldaten daran erkrankt und einige Zeit nach ihrer Entlassung in die Reserve gestorben.
Die eigentlich schweren Erkrankungen sind auf die nahe Zukunft verschoben worden. Auch nach Meinung von Spezialisten der Akademie der Wissenschaften wächst die Wahrscheinlichkeit von bösartigen Wucherungen und verschiedenen Bluterkrankungen für die, die ihre Dienst in der Zone geleistet haben, nach fünf bis zehn Jahren wesentlich an. Es wächst die Wahrscheinlichkeit von Nerven und Schilddrüsenkrankheiten. Schäden der genetischen Substanz sind nicht ausgeschlossen.
Heute treten im wesentlichen „gewöhnliche“ Magen-, Augen-, Nerven- und andere Krankheiten auf. Nur daß eben die Krankheitsrate in diesem Regiment durchschnittlich doppelt so hoch ist wie anderswo in den Streitkräften.
Fünfte Illusion: Die Soldaten in der Zone werden ausgezeichnet ernährt und mit allem Notwendigen versorgt. Dies war so bis zum Ende des Jahres 1988, als das Atomkraftwerk von Tschernobyl selbständig nach dem Rentabilitätsprinzip zu wirtschaften begann. Aber schon seit Ende 1987 begann sich das Sortiment der an die Soldaten ausgeteilten Nahrungsmittel zu verschlechtern. So stehen z.B. einem Soldaten 80 Gramm Fischkonserven zu. Aber früher waren das immerhin Sprotten, und heute... Im Gegensatz zu früher sind die Einkaufsetats für Gemüse nicht mehr je nach den von den örtlichen Sowjets festgesetzten Summen flexibel gehalten. Das heißt, die Soldaten können nur Obst und Gemüse bekommen, wenn es den Kostenvoranschlägen entspricht. Und da reden wir von Zitronen! Die Soldaten in Tschernobyl bekommen täglich ein klägliches halbes Glas Apfelsaft.
Sechste und letzte Illusion: Die Soldaten erfüllen hier eine wichtige vaterländische Pflicht - sie bewachen eine Unfallzone. Und dies ist die Hauptillusion. Was bewachen sie vor wem? Das bereits im Jahre 1986 „liquide“ gemachte Vermögen? Die Zone vor Jägern, Fischern und Pilzsammlern?
In den letzten Jahren gab es Verstöße gegen die Abgrenzung der Zone - aber von welcher Seite? Ehemalige Einwohner der dortigen Orte brachen sich an kirchlichen Feiertagen einen Weg zu den Friedhöfen ihrer Vorfahren. Jetzt wird die ganze Angelegenheit mit Busfahrten organisiert. Und Verstöße gibt es nicht mehr. Mitunter erkämpfen sich Wildschweine und Elche eine Bresche und scheuchen die Alarmposten auf, die dann über die Weidezäune hüpfen. Dies sind die einzigen in diesem Jahr verzeichneten Fälle. Am Ende werden die Deputierten des Obersten Sowjet über eine Entschädigung für die zur Liquidierung der Weideschäden Eingesetzten entscheiden müssen.
Und die Hauptsache. Man wird mit den Illusionen Schluß machen müssen. Die eitle Geschäftigkeit um das Atomkraftwerk von Tschernobyl führt zu nichts als Geldverschwendung. Viele Gelehrte geben bereits zu, daß dieser Boden mehr als ein Jahrzehnt für Menschen unbewohnbar sein wird. Die Grenzen der Zone sollten nach den realen Strahlungswerten gezogen werden, die man aus der Gefangenschaft der Geheimkarten befreien muß. Das Atomkraftwerk von Tschernobyl muß geschlossen werden.
Na ja, und indessen leisten die jungen Leute im Krafwerk ihren tödlichen Dienst, rennen radioaktiven Staub aufwirbelnd, einatmend herum an den Zonenunterteilungen entlang bis zu den Wildschweinschlupflöchern im Draht. Sie vollbringen eine Heldentat.
Eine Heldentat, die niemand braucht, und die schon vergessen ist, bevor sie vollbracht wird.
E. Schirnov (Auszüge aus: 'Komsomolskaja Prawda‘ vom 23.Juli 1989)
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