: MELANCHOLIE DER ANDEN
■ Von Legenden, Geistern und Konquistadoren in Kolumbien
Am Anfang war der Paramo, der Sumpf. Aus der Lagune Iguaque entstieg Bachue, die Menschenmutter. Während sie die eisigen Gewässer verließ, zog sie ein Kleinkind, ihren Sohn, hinter sich her. Beide lebten jahrelang in Iguaque - bis der Sohn zum Mann heranwuchs. Dann zogen sie los, und das fruchtbare Paar bevölkerte die Erde mit seinem Nachwuchs. Ein ganzes Volk wurde gezeugt: die Chibchas. Als Bachue sah, daß ihr Werk vollbracht war, kehrte sie mit ihrem Sohn und Mann nach Iguaque zurück. Letzte Mahnungen an das Volk, und beide verschwanden erneut im Wasser der Lagune.
Im Hochgebirge der nördlichen Anden, ab 3.500 Metern über dem Meeresspiegel, liegt der Paramo. Wie in der Legende der Chibchas, jenes Indiovolkes, das vor der Ankunft der Spanier das kolumbianische Gebirge bevölkerte, liegt auch heute noch ein Hauch von Magie über der olivgrünen bis strohfarbenen Weite. Nur wenige grüne Flecken deuten in dem hügeligen und von schroffen Bergspitzen umsäumten Gelände auf urwaldähnliche Wälder. Dafür wachsen Hunderte, Tausende von „Frailejones“: eine dem Paramo vorbehaltene Pflanze, die aussieht wie die mannshohe Kreuzung zwischen einer Kaktee und einer Blume. Auf einem weichen geschichteten Stamm sitzt eine der mexikanischen Agave ähnliche Krone. Der Name, „Freilejon“, „Mönchlein“, kommt nicht von ungefähr: Tatsächlich sehen die Freilejones im nebligen Gebirgstal oft wie betende Mönche aus. Einmal im Jahr blühen die Freilejones, dann füllt sich die Weite mit kleinen, faustgroßen gelben Flecken.
Die Melancholie der Anden: Unentwegt ziehen dichte Nebelschwaden über den Paramo, immer wieder Teile der Landschaft einhüllend und entstellend. Der feine Regen scheint nie aufzuhören, und es ist eisig kalt. Plötzlich gibt der Nebel eine der unzähligen Lagunen frei. Schwarz erscheint das Wasser; die Oberfläche ist spiegelglatt. Bachue, die Mutter der Chibchas, könnte jeden Moment aus dem See steigen. Dann ist der Spuk vorbei: Der Nebel zieht weiter, neue Freilejones rücken ins Blickfeld, die Lagune ist verschwunden.
Niklaus Federmann, ein deutscher, von den Fuggern entsandter Konquistador, war 1535 auf der Suche nach El Dorado. Er müsse die Kordillere ersteigen, rieten ihm die Indios in den weiten Steppen des Orinoko. Dort oben läge El Dorado, das sagenhafte goldene Königreich. An den heiligen Gebirgslagunen würden die Bewohner El Dorados sich den Goldstaub nur so vom Körper waschen. Wochenlang suchten Federmann und seine Truppen einen Weg in die Anden. Schließlich folgten sie einem Fluß, dem Ariari, und hatten Glück: Tatsächlich konnten sie bis 4.000 Meter über den Meeresspiegel aufsteigen. Doch dann tat sich vor ihnen Sumapaz auf, der größte aller Paramos, rund 100 Kilometer lang und noch einmal so breit. Schon am ersten Tag starben 20 Pferde. Die meisten Lastenträger, Indios aus den tropisch warmen Steppen, hielten die Strapaze nicht durch und starben an den Ufern der Lagunen. Ihre Leichen konnten noch nicht einmal begraben werden: Die Erde war gefroren. Federmann hielt durch, doch es war fast umsonst. Als er in dem Hochtal von Bogota ankam, fand er zwei spanische Konquistadoren, die das Rennen vor ihm gemacht hatten: Sebastian de Belalcazar und Gonzalo Jimenez de Quesada hatten Santa Fe de Bogota bereits gegründet, als der Deutsche halb erfroren dort anlangte.
Vier Jahrhunderte später überquerten ganze Dorfschaften den Paramo Sumapaz. Im Bürgerkrieg der fünfziger Jahre, den sich Liberale und Konservative lieferten, wurden sie aus ihrer Heimat vertreiben. Die Armee war ihnen auf den Fersen. Juan de la Cruz Varela, der Anführer der Flüchtenden, befahl, daß Frauen, Kinder und Alte in einem Pulk in der Mitte marschieren sollten. Umringt wurden sie von Männern, die mit einfachen Flinten die Verfolger in Schach hielten. Wieder Tote, Erfrorene. Die Überlebenden gründeten auf der anderen Seite der Kordillere, mitten im Urwald, neue Siedlungen, heutige Hochburgen der kommunistischen Guerilla FARC. Deren Hauptquartier ist geographisch nur durch den Paramo Sumapaz vom Regierungssitz Bogota getrennt.
Aber die Paramos sind nicht nur geschichtlich interessant. Wie natürliche Schwämme liegen sie im Hochgebirge der Anden und saugen die Feuchtigkeit der antarktischen Südostwinde auf. Dort oben entspringen die unzähligen Flüsse, die Kolumbien zu einem der wasserreichsten Länder der Erde machen. Die Paramos sind riesige Sümpfe auf dem Dach der Anden, und wer sie erwandern will, darf vor nassen Füßen nicht zurückschrecken. Zweieinhalb Stunden von Bogota entfernt, im Nationalpark Chingaza, ist ein Stausee angelegt, der die Fünf-Millionen-Stadt mit Trinkwasser versorgt. Das Wasser bezieht der See aus den unzähligen Lagunen und Sümpfen des Paramos.
Ein Adler zieht seine Runden. Plötzlich macht er sich im Sturzflug über eine Feldmaus her. Adler, Hasen, Rehe, Bären, das Wild der Paramos wird weniger, dezimiert durch die Jäger und Siedler, die sich an den Rändern des Paramos niederlassen. Von Zeit zu Zeit brennen die Bauern sogar innerhalb der Nationalparks die Vegetation ganzer Bergtäler nieder, um dann später ihre Viehherden auf dem nachwachsenden Schilf weiden zu lassen. Trotzdem überleben immer noch einige Tierarten im nur schwer erreichbaren Hochland. Die Biologen der für die Nationalparks zuständigen Behörde „Inderena“ haben ein Projekt gestartet, um den in den kolumbianischen Anden weitgehend ausgerotteten Kondor wieder heimisch werden zu lassen. Seit Anfang Juni leben unter ständiger Aufsicht fünf junge Kondore, die aus Kalifornien importiert wurden, auf einem Grat im Paramo Chingaza. Schon bald sollen zwei der Vögel freigelassen werden.
Wenn alles klappt, wird dann der Kondor wieder zwischen den Nebelschwaden auftauchen und über die heiligen Lagunen segeln. Einen Besucherstrom wird das aller Voraussicht nach kaum auslösen. Die Paramos sind nur mühsam zu erreichen, und man braucht Geländewagen. Von vereinzelten Bauern, Jägern und Wanderern abgesehen, wird der Landstrich auch weiterhin einsam bleiben. Möglich jedoch, daß der Kondor alte Legenden wiederbeleben wird. Die Chibchas gibt es nicht mehr, sie starben oder vermischten sich während der spanischen Herrschaft mit den Eroberern. Dafür halten die an den Rändern der Paramos lebenden Bauern eine umfangreiche Galerie von Gespenstern parat. Hinter jenem Felsvorsprung und gleich neben diesem Frailejon, erzählt einer, sei dem Gevatter erst neulich ein Geist erschienen. Der Besucher solle auf jeden Fall vorsichtig sein, besonders nachts. Der Wind pfeift über die weite Landschaft. Nebelschwaden kommen näher. Vielleicht gibt es die Gespenster doch.
Ciro Krauthausen
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