RÜCKKEHR DER GEFÜHLSECHTEN

■ „Tanz im August“ im Hebbeltheater und in der Tanzfabrik

Es beginnt in der Nacht, während draußen der Regen strömt. Abblätternde Fresken, verblichene Tapisserien, altersblinde Spiegel, Portieren aus verschlissenem Samt: In den Ritzen dieser verfallenen Pracht lauern Erinnerungen. In ihrem Stück Perduti una Notte lassen Roberto Castello, Raffaella Giordano und Giorgio Rossi von der Gruppe „Sosta Palmizi“ Fetzen theatralischer Geschichten in dieser Kulisse Revue passieren. Die ersten beiden schemenhaften Gestalten, die sich noch schüchtern und angstvoll auf der dunklen Bühne herumdrücken, als würden sie nur vor dem Unwetter draußen Schutz suchen, vertreibt ein Diener in halbvermoderter Livree mit dem Staubwedel; er selbst, der virtuose Meister aller Staubwedler, scheint immer erst mitten in der Bewegung zu bemerken, daß die Möbel unter seinen schwungvollen Wischen nur in seiner Imagination existieren. Er kann die Auftritte der phantasmatischen Figuren nicht mehr aufhalten: Es kommen der Flaneur und die zaghafte Selbstmörderin, der Wahnsinnige im Nachthemd und das Kleeblatt der Freunde, die den Eifersuchtsmord als Ritual zelebrieren.

All diese kleinen Dramoletts könnten aus Opern und Stummfilmen herausgerissene Szenen sein. Die drei Italiener kultivieren die morbide Grandezza einer Theatralik, deren abgegriffene Formen aller Absurdität zum Trotz doch wieder eine neue Belebung bei ihnen erfahren. Sie steigern das Pathos des Ausdruckstanzes, sein erhabenes Scheitern, stummes Ringen, verzweifeltes Schütteln und lyrisches Sehnen bis zur Parodie: Da wird der Schmerz zur rhythmischen Gymnastik und das Nahen des Schicksals zur energetischen Atemübung. Aber sie verabschieden sich von der Inszenierung der falschen Gefühle nicht mit aufklärerischer Arroganz, sondern mit Liebe. Und das Publikum lacht; ein Tänzer nimmt das Gelächter auf und spiegelt ihm die Grausamkeit solcher Verachtung wieder.

„Sosta Palmizi“ suchen nach der Differenz der hohlen Form des Ausdrucks und einer von ihnen selbst erfüllten Expressivität. Dabei arbeiten sie mit großer Präzision und Klarheit. Der Raum, den sie mit ihren Fingerspitzen in der Luft abzirkeln und für ihre Auftritte herausschneiden, paßt ihnen wie angegossen. Ganz selten nur rutschen sie ab in eine Vagheit der Bewegungen, die die Konzentration des Zuschauers auf die Tänzer so mühsam macht.

„Sosta Palmizi“, deren gemeinsame Arbeit am Teatro e Danza La Fenice unter der Leitung von Carolyn Carlson begann, bis sie 1984 ihre eigene Compagnie gründeten, berühren in Perduti una Notte mit ihren eingewobenen Persiflagen auf Flamenco, Tango und Apachen-Tanz ein Zentrum der populären Tanzbegeisterung. Die Anhängerschaft des modernen Tanzes speist sich unter anderem aus jenen Heeren, die im Flamenco und Tango die Wiedererweckung der Leidenschaft suchen. Diese Tänze versprechen das gefühlsechte Erlebnis, wenn der im Disko-Freistil verwuselte Körper sich in ihre strengen Formen preßt und in nie geahnten Spannungen den Reiz von Verbot und Rebellion gegen die Disziplinierungen auskostet. Wieviel schöner es ist, sich den Beginn einer Liebesbeziehung im Blickgefecht auf der Tanzfläche auszumalen als im verschlafenen Klassenzimmer oder sterilen Büro. Genau jenes wunderbare Sehnen, das in jedem Melodram kurz vor dem Höhepunkt einsetzt und besser als dieser selbst ist, haben „Sosta Palmizi“ trotz aller Distanzierung von den Posen falscher Gefühle in ihre Bilder hinübergerettet.

Genauigkeit und Tempo fordern Raffaella Giordano und Roberto Castello auch von den Teilnehmern ihres Workshops in der Akademie der Künste, der am 11.August begann und am Sonntag nachmittag nach einer öffentlichen Stunde für interessiertes Publikum enden wird. In Improvisationen üben sie mit ihnen, wie man im Übertreiben der Emotionen über den eigenen Schatten springt, sich in fremdes Erleben hineintastet, nach kleinen und behutsamen Gesten sucht und Situationen mit wenigen, konzentrierten Bewegungen skizziert. Nach den Erfahrungen des letzten Jahres konzipierte die SommerWerkstatt „Zeitgenössischer Tanz“ diesmal ihre Workshops zwei bis drei Wochen lang, um gründliches Arbeiten zu ermöglichen. Nach dem allgemeinen Tänzertraining am Morgen bei Avi Kaiser und Irene Hultmann, das sich in der Berliner Tanzszene inzwischen als Geheimtip herumgesprochen hat und dessen Überfüllung schon moralische Appelle an die Nicht-Angemeldeten hervorrief, arbeiten neben „Sosta Palmizi“ noch zwei weitere Projekte am Nachmittag: Gerhard Bohner will mit dem Komponisten Roland Pfrengele und dem Objektbauer Norbert Stück eine genaue Kalkulation des Zusammenklangs von visuellen und akustischen, statischen und dynamischen Elementen vermitteln, und Fran?ois Verret und Anne Koren aus Frankreich verstehen sich in ihrem Workshop für Choreographen als Katalysatoren in Destillierungsprozessen der Bewegungs- und Bildfindung. Die beiden Franzosen werden am 29. und 30.August ihr eigenes Stück L'Horloge en Folie, angelehnt an die Atmosphäre der Filmwelt der dreißiger Jahre, im Hebbeltheater aufführen.

Zum Programm der diesjährigen Tanzwerkstatt gehören auch die Performanceabende in der Tanzfabrik, bestritten von Solisten und Duos. Dort bewiesen Ramon Oller und Merce Boronat aus Barcelona, daß, wo „Spanien“ draufsteht, auch „Spanien“ drin ist. In A Tu Vera reisen sie durch Liebe und Einsamkeit. Sand auf dem Boden, weiße Tücher auf der Leine, ein kleiner Tisch - fertig ist der Süden mit seiner Gluthitze und spartanischen Ästhetik. Oller und Boronat dienen die exaltierten Posen als Beschwörungsformeln der Gefühle. Mit ihren Blicken scheinen sie Stahlfedern in dem Körper des anderen zu berühren: Sie klappen zusammen wie ein gefährliches Schnappmesser. Aus der kleinen Geste des einsamen Liebhabers, der melancholisch seinen Kopf in die Hände stützt, entwickelt Oller am Tisch sitzend eine ganze Sequenz: immer klarer zeichnet sich in jeder Wiederholung der wie ein Uhrwerk abschnurrenden Verzweiflung ab, daß der Liebende seinen Schmerz genießt. Die Verwundung erst formt seinen Körper, spannt die Muskeln, läßt die Haut strahlen, verleiht begehrenswerte Schönheit. Die Frau kann sich derweil im Sand wälzen, den sie in Fontänen über sich wirft, und mit der Kraft, die ihr die Sehnsucht verleiht, die Erde stampfen. Daß Leidenschaft schon immer eine Groteske ist, daß die Illusion der vergeblichen Liebe gebraucht wird, um die eigenen Körpertemperaturen hochzutreiben, ist in dieser spannungsreichen Balance zwischen Komik und Ernst stets gegenwärtig.

Diese beiden Gruppen aus Italien und Spanien plagt nicht die deutsche Angst, in ihren Emotionen zu versumpfen. Was zum Kitsch werden könnte, berühren sie mit leichter Hand und nehmen ihm das Gewicht. Sie beerben eine schon totgeglaubte Expressivität ohne Peinlichkeit. Keine Bedeutungsschwangerschaften blähen ihre Szenen auf.

„Tanz im August“ bietet schließlich auch einen Workshop für Tanzkritiker an, der der sitzenden Position der meisten Teilnehmer zuliebe „Symposium“ genannt wird. Heute und morgen, Samstag, werden in der Akademie Vorträge gehalten über die Vermittlung von Tanz in der Presse, Hörfunk und Film, über die Mitteilungsgrenzen von Körpererfahrung, die Rolle der Tanzkritik in Frankreich, den USA und der BRD und über Kriterien der Tanzkritik. These der Veranstalter ist, daß der schlampige Umgang der Medien mit dem Tanz und der hierzulande mangelnde Einbezug des Tanzes in eine Kulturtheorie für seine kulturpolitische Vernachlässigung mit verantwortlich sind. Sonntags um 11 Uhr schließt eine öffentliche Podiumsdiskussion das Symposium „Perspektiven der Tanzkunst“ ab.

Katrin Bettina Müller

Hebbeltheater: 26. und 27.August, 20.30 Uhr, I.D.A. Mark Tompkins, Paris, Nouvelles; 29. und 30., 20.30 Uhr, Fran?ois Verret und Anne Koren L'Horloge en Folie.

Tanzfabrik: 25., 20.30 Uhr, Post & Post aus Amsterdam, Frans Poelstra aus Amsterdam, Tanztheater Rubato aus Berlin; 27. und 28. Luisa Casiraghi aus Mailand und Avi Kaiser aus Brüssel.

Akademie: „Perspektiven der Tanzkunst“, Freitag 14-18 Uhr, Samstag 10-14 Uhr, Sonntag ab 11 Uhr. Sonntag ab 16.30 Uhr Einblick in den Sosta-Palmizi-Workshop.