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Bevölkerungszuwachs stellt Bettenplan in Frage

Interview mit Gisela Wirths, gesundheitspolitische Sprecherin der AL-Fraktion, über Krankenhausplanung und eine neue Gesundheitspolitik / Erhalt des St. Marien informell zugesagt  ■ I N T E R V I E W

taz: Der Krankenhausbettenplan des alten Senats sieht die Streichung von rund 2.500 Betten vor. Laut Rahmendaten zur Fortschreibung dieses Planes unter dem rot-grünen Senat sollen nun weitere 1.200 Betten gestrichen werden. Ist das für die AL vertretbar?

Gisela Wirths: Nein, das ist unter keinen Umständen vertretbar, da sich nach neueren Informationen auch die Bevölkerungsentwicklung ganz anders darstellt als bisher. Das ist der eine Punkt. Es wäre von uns aber ohnehin nicht als vertretbar angesehen worden, da überhaupt kein Bezug zur ambulanten Versorgung besteht, der statt dessen hergestellt werden soll. Wir sind nicht der Auffassung, daß die Betten abgebaut werden können, bevor nicht die ergänzenden ambulanten Einrichtungen geschaffen sind.

Was hat sich denn bei der Bevölkerungsentwicklung verändert?

Die Informationen sind noch nicht ganz konkret. Nach neuesten Erkenntnissen muß man wohl davon ausgehen, daß sich die Bevölkerung auf 2,3 Millionen erhöhen wird. Das ist natürlich eine völlig andere Grundlage für eine Bedarfsberechnung als die Zahl von 1,9 Millionen Menschen, die dem alten Krankenhausplan zugrunde lag.

Selbst eine „Fortschreibung“ des alten Krankenhausplanes kann also eventuell gar nicht mehr umgesetzt werden?

Das stimmt. Die Gesundheitsverwaltung will demnächst eine ganztägige Klausurtagung zum Thema „Bevölkerungsentwicklung“ veranstalten.

In den Koalitionsvereinbarungen wurde eine Neufassung des Krankenhausplanes von 1986 gefordert, in der Gesundheitsverwaltung spricht man allerdings nur von einer „Überarbeitung“. Ist das denn noch auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen?

Ich denke schon. Ich war ja selbst bei den Koalitionsverhandlungen anwesend und weiß auch, was man sich da konkret vorgestellt hatte. Wie Frau Stahmer selbst häufig in der Öffentlichkeit sagt, soll ja nicht nur ein isolierter Krankenhausplan, sondern ein Gesundheitsplan entstehen; das heißt, man berücksichtigt, welche Struktur die einzelnen Bezirke haben; was erforderlich ist, wenn man Betten abbaut, was ja nicht grundsätzlich abzulehnen ist; man plant entsprechende Komplementäreinrichtungen, wie Krankenwohnungen und weitere Sozialstationen. Um das zu ermöglichen, ist es unbedingt notwendig, die Krankenhausdaten in Bezug zur ambulaten Versorgung zu stellen.

Nun gibt es die Befürchtung, daß Ausbau und Umzug des Rudolf-Virchow-Krankenhauses mit geschätzten Kosten von 1,8 Milliarden Mark kaum mehr Spielraum für eine neue Gesundheitspolitik läßt.

Das befürchte ich auch, aber ich verfüge über zu wenig Zahlen, um das auch belegen zu können. Ich vermute, daß die Kosten einen derartigen Umfang annehmen werden, daß anderen Bereichen im Gesundheitswesen sehr viel verlorengeht.

Sie haben vor einigen Wochen scharfe Kritik geübt, daß bisher nur Chefärzte um ihre Stellungnahmen zum Bettenplan gebeten worden sind. Halten Sie die Kritik weiter aufrecht?

Die Kritik ist so nur noch bedingt aufrechtzuerhalten. Bisher war es tatsächlich so, daß nicht sehr demokratische Verfahrensweisen gelaufen sind. Man hat bislang nur die Krankenhausleitungen befragt, was anscheinend der übliche Verlauf ist. Aber wir wollen ja eine neue Politik machen. Frau Stahmer hat in einem Brief aber nun ihre Bereitschaft angedeutet, doch sehr viel mehr Gremien bei der Gestaltung des zukünftigen Gesundheitsplanes zu beteiligen. Ich bin optimistisch, daß da Bewegung in den Senat kommt.

Sie haben die Finanzierung einer Stelle vorgeschlagen, um einen alternativen Bettenplan zu erstellen. Wie soll eine Person das bewerkstelligen?

Das ist ein großes Problem, daß eine Person das nicht bewerkstelligen kann, wofür ansonsten ein ganzer Verwaltungsapparat zur Verfügung steht. Mir schwebt vor, daß man ein nicht allzu umfangreiches Leitlinienkonzept entwickelt, in dem aber alle wichtigen Kriterien enthalten sind und zumindest Grobschätzungen, was die Kosten betrifft. Damit will ich nachweisen, daß ein sinnvoll miteinander vernetztes Gesundheitssystem letztlich billiger ist. Es ist menschenfreundlicher und billiger.

Eine unbekannte Größe in der ganzen Debatte sind die Krankenkassen. Ist es denn vorstellbar, daß die sich auf einen Alternativplan einlassen würden?

Es gibt einige wenige Krankenkassenvertreter, mit denen ich bereits darüber gesprochen habe. Die stehen dem durchaus wohlwollend gegenüber. Wenn es gelänge, innerhalb der Krankenkassen etwas Bewegung zu initiieren, müßte man auch zu der Erkenntnis kommen, daß eine Umstrukturierung des Gesundheitswesens auch die Kassen billiger kommen würde.

In der öffentlichen Debatte sind immer wieder die von der Schließung bedohten Krankenhäuser St. Marien und Britz aufgetaucht. Sehen Sie eine Möglichkeit für eine positive Entscheidung für die beiden Häsuer unabhängig von der Debatte um den Krankenhausbettenplan?

Das ist möglich. Nach den Informationen, die ich von Frau Stahmer und der Staatssekretärin, Frau Kleinert, habe, wäre es möglich für diese beiden Häuser eine Zwischenverhandlung zu führen mit den Krankenkassen und auch den derzeitigen Krankenhausleitungen. Um zu verhindern, daß im Rahmen der Fortschreibung des noch bestehenden Krankenhausplanes Fakten geschaffen werden, die dann nicht mehr rückgängig zu machen sind. Die beiden Modelle selbst sind Paradebeispiele für unsere Vorstellungen einer neuen Gesundheitsversorgung. Es ist keine Lösung, aus dem St. Marien ein Krankenheim zu machen. Ich nehme an, daß das auch im Senat so gesehen wird. Dieser Kiez braucht ein Krankenhaus mit einer breitgefächerten, kiezbezogenen Versorgung. Das muß jetzt ausgehandelt werden, zumal die Entscheidung für den Erhalt offenbar gefallen ist. Die informelle Aussage habe ich nun schon mehrfach bekommen, aber öffentlich ist das bisher noch nicht konkret geäußert worden.

Das Gespräch führte Andrea Böhm

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