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Schreib das auf, DPA!

■ Auf den Fersen der abziehenden vietnamesischen Truppen aus Kambodscha pirscht der Tross der Weltpresse

Schreib das auf, DPA!

Von Cord Schnibben

Auf den Fersen der abziehenden vietnamesischen Truppen aus Kambodscha pirscht der Tross der Weltpresse

Timothy Bider wußte bis vor drei Tagen noch nicht, daß er heute in einem Auto die Nationalstraße Nr.1 von Ho-Chi-Minh -Stadt nach Phnom Penh abfahren würde. Er hatte nicht einmal von der Existenz dieser Straße gewußt, was nicht weiter verwunderlich ist, da er noch nie vorher in Vietnam gewesen war. Vor drei Tagen lag ihm sogar, der Gedanke vollkommen fern, eines Tages dieses Land bereisen zu müssen. Es interessierte ihn einfach nicht. Doch an jenem Tag hatte sein Chefredakteur beschlossen, ihn für die südkoreanische 'Sae Gae Times‘ hierherzuschicken, wohl, weil Timothy Bider Amerikaner ist und südkoreanische Chefredakteure davon auszugehen scheinen, daß Amerikaner im Alter zwischen dreißig und vierzig Jahren Vietnam-Experten sein müssen.

Timothy Bider ist zwar zwischen dreißig und vierzig Jahre alt, aber er habe noch nie in seinem Leben Glück bei einer Lotterie gehabt, pflegt er zu erklären, und darum habe damals, bei der Rekrutierungslotterie für den Vietnamkrieg, das Los nicht ihn und die jungen Männer seines Geburtstages getroffen. Bider gehört sogar zu den wenigen Amerikanern zwischen dreißig und vierzig, die dem Vietnamkrieg weder als Veteranen noch als Demonstranten verbunden sind. Ihn öden die zahllosen Kriegs- oder Antikriegsfilme an, die das wohlige Grauen der Dschungelschlachten heraufbeschwören, ihn langweilen die tausendundeine Reportagen, in denen das heutige Vietnam die Kulisse für die Erinnerungstrips schreibender Ex-GIs abgibt. Er wolle das Land, so erzählt er, ohne militärische Vorbildung sehen, nicht durch den Feldstecher verlorener Schlachten, aber er soll, zu seinem Leidwesen, den Truppenabzug der Vietnamesen aus Kampuchea beobachten, jedenfalls hat man ihm das gesagt, als man ihm vor drei Tagen in der Redaktion zwei Kameras und vierzig Filme in die Hand drückte.

Timothy Bider gehört zu den wenigen Journalisten, auf die Soldaten keine Anziehungskraft ausüben, weder im Frieden noch im Krieg. Für viele seiner Kollegen ist die Kriegsberichterstattung, eingestanden oder uneingestanden, die Krone des Journalismus, die ganz persönliche Tauglichkeitsprüfung für Leben und Beruf. Die Korrespondenten reizt das prickelnde Gefühl, Geschichte zu erleben; und sie lockt das (kalkulierbare) Spiel mit dem Tod, das sie je nach Temperament an der Hotelbar oder im Kampfhubschrauber suchen. Divisionen von Reportern zogen in den Vietnamkrieg und schwärmten davon, wie wunderbar das Land im Frieden sein müsse, obwohl sie wußten, daß der Krieg das einzige war, was sie an Vietnam interessierte.

Pflichtbewußt wie Aasgeier sind Journalistenschwärme drei Jahrzehnte lang immer dann in Indochina gelandet, wenn sich die Armeen der Bewaffneten in Bewegung setzten, und sei es, wie jetzt, um das Schlachtfeld zu räumen. Vierundneunzig Journalisten aus aller Welt steuern auf der Nationalstraße 1, vor Timothy Bider und hinter ihm, die kambodschanische Grenze an. Alle sind von ihren Redaktionen geschickt, um vom Rückzug der Krieger Ho Chi Minhs zu berichten, diesem Wendepunkt in der Weltgeschichte. So bewegt sich an diesem Tag eine abenteuerliche Karawane auf den Grenzßübergang Moc Bat zu, eine verwegene Sammlung ächzender Daimler, Chrysler, Moskwitsch, Citroen und flotter Isuzu, Toyota, Honda, Nissan.

Die Parade aller in Saigon aufzutreibenden Mietwagenmodelle läßt die Landarbeit rechts und links der Straße für einige Schrecksekunden zum Erliegen kommen. Bei der Abreise hatte es vor den Saigoner Hotels giftige Dispute über die Aufteilung der Wagen gegeben, da die amerikanischen Journalisten von den vietnamesischen Pressebereuern vorzugsweise in die romantischen alten Schlitten und die Kollegen aus dem Rest der Welt in die praktischen neuen Autos gesetzt worden waren, aber nun an der kambodschanischen Grenze sind im Ärger alle vereint. Jeder muß sich von seinem Privatchauffeur trennen. Jenseits des Schlagbaums warten zwei äußerst klapprige und vor allem unbequem aussehende russischen Busse. Wohl um die Souveränität des kambodschanischen Volkes, der kambodschanischen Regierung und vor allem des kambodschanischen Presseamtes zu demonstrieren, übergeben die vietnamesischen Betreuer die Weltpresse ordnungsgemäß ihren brüderlich verbundenen Kollegen aus dem Land der Khmer.

Leider erweist sich der bereitstehende wuchtige Lkw chinesischen Abstammung als zu klein für die Kofferkollektion der Berichterstatter, was insbesondere die kofferlastigen Fernsehteams beglückt, da sie nun mit einigem Recht darauf bestehen können, die Reise in den ihnen schon liebgewordenen Saigoner Gefährten fortsetzen zu können. Bis zu diesem Tag war eine Autofahrt nach Kampuchea eine Kostbarkeit, eine journalistische Rarität. Wenn westliche Korrespondenten überhaupt in das Land der Khmer vordringen konnten, dann nur nach monatelanger, manchmal jahrelanger Wartezeit und nur per Flugzeug. Der Landweg war wenigen Auserwählten vorbehalten, wohl weil sich die Regierenden um das eigene Ansehen und das Wohl ihrer Gäste sorgten. Man mußte mit Überfällen der Khmer Rouge rechnen, jener Guerillabande, die über eine Million ihrer Landsleute und einige Dutzend westliche Journalisten auf dem Gewissen hat, soweit man bei diesen Schlächtern davon sprechen kann.

Wie viele Skelette tatsächlich auf ihr Konto gehen, weiß kein Mensch, und 'DPA‘ schon gar nicht. Zwei Tage vor der Abfahrt der Presse hatte die deutsche Nachrichtenagentur daran erinnert, daß von 1975 bis 1979 unter der Herrschaft der Khmer Rouge „Hunderttausende ermordet worden“ waren; drei Täge später waren laut 'DPA‘ dem „Schreckensregime mindestens eine Million Menschen zum Opfer gefallen„; und zehn Tage später werden Pol Pot „über zwei Millionen Menschen zum Opfer gefallen“ sein, vorsichtshalber nach „Angaben der jetzigen Machthaber in Phnom Penh“, doch diese Machthaber geben, wie 'Die Zeit‘ mitgeschrieben hat, „die Zahl von 3 314 768 an“. Im ZDF wird der bayrische Moderator des 'heute-journals‘ am nächsten Abend einen Filmbericht über Kampuchea und „eine Million Tote“ ankündigen, der ZDF -Korrespondent wird allerdings im Filmbericht von „fast zwei Millionen Toten zur Zeit Pol Pots“ sprechen, „durch Photos ausgewiesen“. Polaroid oder Kodachrome?

Genau ein Jahr zuvor hatte schon einmal ein kleiner Korrespondentenkonvoi diesen Schlagbaum passieren dürfen, ebenfalls aus Anlaß vietnamesischer Rückzugsoperationen. Damals jedoch unterlag das Programm strengster Geheimhaltung, um die Untergrundkämpfer nicht zu Auftritten vor den Vertretern der Weltöffentlichkeit zu verleiten. Diesmal geht es beunruhigend ungeheim zu, wohl um vor aller Augen den Sicherheitsbeweis zu liefern. Nicht wenige der Testpersonen hatten in den Wochen und Monaten vorher, von Bangkok, Hongkong oder New York aus, die Unsicherheit im Lande beschrieben. „Rote Khmer melden Erfolge gegen Vietnams Truppen“ - „Die Roten Khmer wieder in der Offensive“ - „Die Khmer Rouge formieren sich“. Die Chronistenpflicht ruft: Nicht wenige der Journalisten, die auf der Nationalstraße 1 im Schlaglochslalom der Hauptstadt entgegengeschüttelt werden, treibt die Hoffnung und die Furcht voran, irgendwo auf der einwöchigen Tour durchs Land einen überzeugenden Beweis für die neue Schlagkraft der Khmer Rouge miterleben und beschreiben zu dürfen. (...)

Nach einer kurzen, harten Nacht in Phnom Penh, die die einen unter den himmelblauen, gerüschten Moskitonetzen des Prinzen, die meisten jedoch auf einer Decke zu ebener Erde im Empfangssaal verbrachten, nach zweistündig verspätetem Abflug sind die abziehenden Marschkolonnen fröhlicher Schulkinder, die die Journalisten beim Anflug auf Battambang registrieren, die ersten Anzeichen neuen Unheils. Zwei vietnamesische Generäle, die das Flugzeug besteigen, das die Berichterstatter verlassen haben, vertiefen die bösen Ahnungen, und die eilige Fahrt ins Zentrum der Stadt bringt die Gewißheit: Die abrückenden Truppen sind bereits vor einer halben Stunde abgerückt, das heißt, sie seien abgerückt, heißt es.

Heiterkeit unter den Zeitungsreportern. Entsetzen bei den Photographen. Panik in den Fernsehteams. Sie haben für den späten Nachmittag Satellitenleitungen bestellt, die ihre Bilder voller rollender Panzer, Geschütze und Regimenter in die Welt tragen sollen. Man möge doch 600 Passanten in Uniform stecken, bewaffnen und abmarschieren lassen, fleht 'Korean Broadcasting System‘. Das sei die Rache der Khmer für den Hubschrauberverzicht, stöhnt 'Television France 1‘. Ein klappriger Laster, beladen mit Gerümpel und einigen Soldaten, nährt die Hoffnung, irgendwo in der Stadt doch noch Vietnamesen in Uniform zu finden, und so beginnt eine verzweifelte, wenn auch kurze Suche. Vor einer Kaserne der kambodschanischen Armee bringen die Wortführer die Busse zum Halten und begehren, natürlich erfolglos, Einlaß.

Während die Photographen beginnen, wild um sich zu schießen, die Reporter versuchen, mit heranstürmenden und davonlaufenden Kindern ins Gespräch zu kommen, und die Fernsehteams die Straßenkreuzung in Minuten zur meistgefilmten Straßenkreuzung der Welt machen, liefert 'Hongkong TV‘ seinen Zuschauern bereits die Analyse der Folgen des Truppenabzugs. „Ich bin Male Cran in Kambodscha“, sagt die fabelhaft aussehende Moderatorin in die Kamera ihres Teams, es kann auch sein, daß sie „Lom Chan“ sagt, aber ihre Zuschauer werden sie ja ohnehin kennen. „Die Vietnamesen ziehen ihre Truppen tatsächlich ab aus Kambodscha“ - tatsächlich hat die Reporterin noch keine Truppen gesehen, geschweige denn abziehende; „die Leute in Battambang fürchten wieder die killing fields“ - außer den sprachlos staunenden Kindern rings um ihren Kameramann hat sie noch keinen Einwohner von Battambang aus der Nähe betrachtet, geschweige denn gesprochen. Am späten Nachmittag wird sie per Satellit einen 32 Minuten langen Hintergrundbericht nach Hongkong überspielen.

Die Fernsehteams, besonders die japanischen, setzen den Khmer-Offizieren so lange zu, bis diese einwilligen, den flüchtenden Truppen hinterherzurasen. Eine atemberaubende Verfolgungsjagd auf der Nationalstraße 5 beginnt, Richtung Westen, Richtung Xixophon, was verwirrend, da Vietnam östlich von Battambang liegt, Xixophon aber westlich, fünfzig Kilometer vor der thailändischen Grenze. Dahinter lauern die Guerillas in Lagern, immer bereit, feuernd ins Land der Khmer einzudringen. Die Truppen Vietnams ziehen sich also geradewegs in die Arme Pol Pots zurück, verfolgt von besorgten Reportern, Photographen und Kameramännern. Der 'Stuttgarter Zeitung‘ nach sind wir, wie man ihr zwei Wochen später entnehmen kann, jetzt schon im Hoheitsgebiet der Khmer Rouge, kontrollieren diese doch „praktisch den gesamten gebirgigen Nordwesten des Landes“. Gebirge gibt es allerdings nicht im Nordwesten. Aus den Reisfeldern rechts und links der Straße müssen laut 'Stuttgarter Zeitung‘ Mörser, Geschütze und Maschinengewehre auf uns gerichtet sein: „Krieg ist überall in Kambodscha. Nur in den Städten ist es halbwegs sicher.“

Wohl um es den Heckenschützen so schwer wie möglich zu machen, preschen die beiden Busfahrer mit hoher Geschwindigkeit Richtung Thailand, ganz so, als gebe es keine Schlaglöcher auf dieser staubigen Piste, die nur aus Schlaglöchern besteht. Nach sechzig höllischen Kilometern stößt der erste Bus schließlich auf den Schwanz des Militärkonvois, am Ortseingang von Xixophon. Wild hupend kurvt er an den verdutzten Kriegern vorbei, überholt Transporter um Transporter, Haubitze um Hauitze. Die Kämpfer sehen im Vorbeifahren Dutzende Kamerarohre auf sich gerichtet und benehmen sich, reflexartig, wie glückliche Heimkehrer. Sie winken. Irgendwie schafft es jemand, den Konvoi zu stoppen, das heißt seinen hinteren Teil. Die Weltpresse erobert blitzartig die Dächer und Kühlerhauben der Lastwagen und eröffnet das Feuer auf jubelnde Soldaten, unsoldatisch leger gekleidete Burschen, die mit ihren offenen grünen Hemden, ihren Sonnenbrillen und ihren Sandalen erschreckend unmartialisch aussehen. Lediglich die rot-weißen Staubtücher der Khmer, die einige als Souvenirs um den Hals tragen, geben ihnen ein wenig kämpferischen Chic. Es bedarf energischer Regieanweisungen - nicht winken, nicht lachen, ernste Mienen, Gewehre zeigen -, bis aus dem Haufen eine halbwegs ernstzunehmende Truppe wird, die die Photographen mit gutem Gewissen der Welt als fünftstärkste Armee der Erde vorstellen können. Nach wenigen Minuten ist der Pressetermin beendet, die Dschungelkämpfer verschwinden winkend und feixend um die nächste Wegbiegung. Leider viel zu früh, denn der zweite Journalistenbus trifft erst ein, als sie schon über alle Berge sind. Was gibt es Schlimmeres für Journalisten, als ein Ereignis zu versäumen, über das die Bilder anderer Journalisten Zeugnis ablegen. In ihrer Verzweiflung schlagen die Nachzügler, unter ihnen viele Fernsehteams, vor, doch einfach bis zur thailändischen Grenze weiterzufahren, was die Khmer-Offiziere selbstverständlich mit mitleidigem Kopfschütteln oder schrillem Gelächter quittieren.

Der Rückzug der Weltpresse nach Battambang gleicht dem Abmarsch einer demoralisierten Armee. In Gedanken ist jeder damit beschäftigt, die Entschuldigung für die Heimatredaktion zu formulieren, traktiert von den nervtötenden Schlägen der Straße, umnebelt von immer neuen Staubwolken. Selbst die Glücklichen, die diese kurzen Blicke auf die Soldaten erhaschen konnten, können nach nüchterner Überlegung ihrer Beute nicht so recht froh werden. Keine Panzer, keine große Artillerie, keine endlosen Kolonnen, lediglich ein Haufen hilfsbereit agierender Soldaten auf einigen klapprigen Lastern, das ist doch sehr dürftiges Material zur Illustration eines Weltereignisses.

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