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Erinnerung an „nationale Schande“

Willy Brandt zum 50.Jahrestag des Kriegsbeginns (Auszüge aus seiner Rede im Bundestag)  ■ D O K U M E N T A T I O N

Nicht irgendwie und durch irgendwen wurde der Zweite Weltkrieg begonnen, auch nicht nur im mißbrauchten „deutschen Namen“. Über Kurzsichtigkeiten nach 1918 läßt sich viel sagen - eindeutig bleibt die hitlerdeutsche Schuld. Der neue Krieg, unter dem Deutschland selbst so schwer leiden sollte, war schon vor dem Pakt vom 23.August geplant, vorbereitet, gewollt und hätte sich allenfalls durch vorweggenommene allseitige Kapitulation vermeiden lassen.

Gelegentlich liest man, auch Polen sei 1939 nicht demokratisch regiert worden - was zutrifft, ohne etwas zur Sache zu tun. Wenn damit die Behauptung einhergeht, Polen sei gar nicht überfallen, sondern allenfalls mit einem Gegenangriff überzogen worden, so darf man das nicht durchgehen lassen. Es ist verbürgt, daß der sogenannte Führer vor seinen Generälen prahlte, er werde für die Rechtfertigung des Angriffs sorgen - „gleichgültig, ob glaubhaft“.

Zu den hausgemachten Vorwänden gehörte ein fingierter Angriff auf den Sender Gleiwitz - nicht so weit entfernt von jenem, damals kaum bekannten Ort namens Auschwitz, dessen Verbindungen mit fabrikmäßigem Massenmord - vor allem an den unzähligen jüdischen Opfern des Rassenwahns - viele nie mehr haben abschütteln können. Jener Ort hat uns, die gebrannten Kinder der Menschheit, gelehrt, daß die Hölle auf Erden geschaffen werden kann - sie wurde geschaffen.

Daß es für das eigene Volk so enden würde - keine Familie ohne Tote, Millionen ihrer Behausung in den zerbombten Städten beraubt, weitere Millionen ohne die alte Heimat und in der neuen Spaltung - all das hat sich kaum einer vorstellen können, als es am 1.September '39 begann.

Ich erinnere an die heimliche Furcht, die seit der sogenannten Machtergreifung nur noch selten aus den Herzen der Deutschen gewichen war, ob Gegner oder Anhänger des Regimes. Auch bei vielen aus der zweiten breiten Schicht bestürmte sie die Stunden des Katzenjammers nach den hochgejubelten Erfolgen.

An jenem 1.September hofften die Naziführer mit ihrem Anhang, daß die Westmächte klein beigeben und sich trotz Polen arrangieren würden. Die plumpe Rechnung ging nicht auf. Die Mehrheit der Deutschen dürfte - anders als die bösen Wunschdenker an der Spitze - mit einer dumpfen, halb gelähmten Gewißheit verstanden haben, daß die Herrschaft des Todes mit letztem Ernst eingesetzt hatte. Man ahnte, daß Millionen nicht heimkehren würden. Daher das Schweigen, das Zeitgenossen ein bleiernes nannten. Es nahm jenes entsetzliche Schweigen voraus, das sich 1945 über die Trümmer des Reiches legte - über die Ruinen Europas, vor allem auch der Sowjetunion. Es blieb - bei einigen nachdrücklicher als bei anderen - das Schweigen der Trauer, der Scham, der Mitschuld, jedenfalls der Mitverantwortung für das Schicksal anderer und vor dem eigenen Volk.

Nicht notwendigerweise hat es so kommen müssen, wie es 1933 und 1939 gekommen ist. Nicht erst in lebensgefährlichen Schriften des Untergrunds, nein, schon in Aufrufen aus der Zeit der zu Ende gehenden Weimarer Republik war gewarnt worden, daß Hitler Krieg bedeute. Mit dieser Einsicht bin ich politisch erwachsen geworden. Ich habe nicht vergessen, daß vielen als Empfehlung erschien, was auf die anderen abschreckend wirkte. Die meisten - auch im Ausland meinten, die Warnungen seien übertrieben.

Doch auch wenn man nicht hatte hören wollen, daß X zu Y führe, in Wahrheit hörte man es doch. Man wollte es nicht glauben und fürchtete es dennoch. Da waren natürlich auch jene, die sich aufführten, als fürchteten sie nichts auf der Welt, schon gar nicht Gott. Sie wollten nicht bloß Krieg, sondern einen solchen, dessen maßlose Erniedrigung ihnen nichts ausmachte. Was sie wollten, hätte man auch damals wissen können. Doch denen, die es wußten - und sagten -, ging es nicht gut.

Eine selbstkritische Frage drängt sich mir auch hier auf: Wenn man die Warnung vor dem, wohin die NS-Herrschaft führen werde, buchstäblich und ganz ernst genommen hätte, wären dann nicht viel größere Risiken angemessen gewesen, um das nationale und europäische Unheil abwenden zu helfen? Auch als klar war, daß Hitlers Krieg nur noch zu verlieren war, hätte sich beträchtliche menschliche und materielle Substanz vor der Vernichtung bewahren lassen.

Die große Lehre jener Zeit lautet: Wo die Freiheit nicht beizeiten mit großem Einsatz verteidigt wird, ist sie nur um den Preis schrecklich hoher Opfer zurückzugewinnen. Ein mündiges Volk darf die Macht nicht in die Hände von Verrückten und Verbrechern fallen lassen.

Dies ist die eine Lehre, und zu der gehört: Den Nachwachsenden nahebringen, daß dies auch sie - über materielle Folgen hinaus - noch angeht. Sie lehnen es zu recht ab, sich Verantwortung oder gar Schuld vererben zu lassen. Doch es geht nicht mehr um unser, es geht um ihr Leben. Und nur wer begriffen hat, was damals geschah, wird sich gegen die Lähmung der Vernunft und die Aggression der Dummheit zu schützen wissen. Wird auch die Kraft finden, die Gefahr des Krieges, so es an ihm liegt, immer von Neuem abzuwehren.

Wer - noch immer oder wieder - bei den Zerstörern Europas Anleihen macht, fügt dem eigenen Volk Schaden zu. Aber auf leicht eingebräunte Spatzen mit Kanonen zu schießen, das ergibt keinen Sinn. Es wäre verwunderlich - um nicht zu sagen, verdächtig - wenn sich, wie anderswo in Europa, nicht auch bei uns in der Bundesrepublik gelegentlich Leute zu Wort meldeten, die mit nationalistischen Ladenhütern aufwarten. Konzessionen sollte man ihnen nicht machen. Die eigentliche Antwort auf rückwärtsgewandte Versuchungen, die andere große Lehre, heißt jedoch: mit noch größerer Hingabe für Europa arbeiten, ohne damit verstaubte Vorstellungen von deutscher Führung zu verbinden.

Inzwischen ist es Zeit, an Gesamteuropa zu denken. Ein faszinierender Prozeß der Neugestaltung führt uns nun dem größeren Europa näher. Aber ohne Widersprüche und Rückschläge wird es auch weiterhin nicht abgehen. Ich denke mir, Staaten auf Rädern wird die künftige europäische Hausordnung nicht vorsehen. Und keine Vertreibung. Und keine Trennmauer, schon gar nicht zwischen Angehörigen ein und derselben Nation. Auch nicht Regierungen, die von ein paar Dutzend Divisionen abhängiger sind als von der Verständigung mit dem eigenen Volk. Wer das ganze Europa in den Blick faßt, kommt jedenfalls um Deutschland nicht herum.

Mit dem Warschauer Vertrag vom Dezember 1970 wie mit dem Moskauer Vertrag haben wir die Kette des Unrechts durchbrechen, der Vernunft eine neue Chance geben, menschliche Erleichterungen fördern wollen. Mir war bewußt, daß sich die Siegermächte auf Grenzen verständigt hatten, die über ursprüngliche polnische Forderungen hinausgingen.

Schon der erste deutsche Bundeskanzler wußte, daß uns in der weiten Welt keine Regierung in Grenzforderungen unterstützen würde. Und es wäre mehr als peinlich, wenn man bei uns den Eindruck aufkommen ließe, es bedürfte russischer Truppen, um Polens Grenze gegen deutsche Ansprüche zu sichern. Wer im Gegensatz zum Geist des Warschauer Vertrages die Grenzen in Frage stellt, gefährdet den Zusammenhalt der Deutschen, wo sie heute leben.

Das polnische Volk und seine Regierung - und das gilt gleichermaßen für Ungarn und für die anderen Länder, in denen die Prozesse der Erneuerung langsamer anlaufen sollten spüren, daß wir uns ihnen in Solidarität verbunden fühlen. Dabei unterstelle ich nicht, daß die polnische Seite nur Wünsche vorbringt, die leicht zu befriedigen sind. Von uns wird Zusätzliches erwartet. Wo es nach vorn führt und solide ist, werden wir uns große Mühe geben müssen. Selbsthilfe und europäische Unterstützung müssen wirksam ineinandergreifen. Und zwar so, daß nicht neue drückende Abhängigkeiten entstehen.

Ich will offen meinem Empfinden Ausdruck geben, daß eine Zeit zu Ende geht. Eine Zeit, in der es sich in unserem Verhältnis zum anderen deutschen Staat vor allem darum handelte, durch vielerlei kleine Schritte den Zusammenhalt der getrennten Familien und damit der Nation wahren zu helfen. Was jetzt - im Zusammenhang mit dem demokratischen Aufbruch im anderen Teil Europas - auf die Tagesordnung gerät, wird mit neuen Risiken verbunden sein - schon deshalb, weil es ein historisch zu belegendes und höchst vielfältig gefächertes, keineswegs erst durch den Hitler -Krieg belebtes Interesse der europäischen Nachbarn - auch der halbeuropäischen Mächte - daran gibt, was aus Deutschland wird.

Der Wunsch, das Verlangen auch der Deutschen nach Selbstbestimmung wurde in den Westverträgen bestätigt und ist durch die Ostverträge nicht untergegangen. Sie bleiben Pfeiler unserer Politik.

Wir sind nicht die Vormünder der Landsleute in der DDR. Wir haben ihnen nichts vorzuschreiben, dürfen ihnen auch nichts verbauen. Im Bewußtsein unserer Menschen wachzuhalten, daß die Nachbarn im anderen Teil Deutschlands zwar das kürzere Los gezogen, aber den Krieg nicht mehr als wir verloren haben, bleibt ein Gebot der Stunde. Daß eine effektive und unbürokratische Hilfe für bedrängte, in unverschuldete Not geratene Landsleute ein Gebot unserer Selbstachtung bleibt, sollte keiner weiteren Worte bedürfen.

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