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Keine Front ohne Deserteure

■ Symbolisch zum 50.Jahrestag des Kriegsbeginns eröffnete die Elefanten Press Galerie eine Ausstellung zum Thema „Deserteure“ vom Ersten Weltkrieg bis heute

„Ich gebe zu, mir den Schuß in die linke Hand selber beigebracht zu haben.“ So lautet das Geständnis eines Soldaten in einem Verhandlungsprotokoll von 1943. Was den Soldaten zur Selbstverstümmelung veranlaßte, steht außer Frage: Die Sinnlosigkeit der Kriegsführung und die Angst vor dem eigenen Tod waren für viele Soldaten der Wehrmacht Gründe genug, sich selber schwerste Verwundungen zuzufügen, um dem Terror an der Front zu entkommen. Nicht selten wartete zu Hause oder im Lazarett ein Militärgericht, um die Selbstverstümmelung als Fahnenflucht zu enttarnen. Todesurteil und Hinrichtung im Schnellverfahren waren in der Regel die Folge. „Der Soldat ist für die Gesellschaft nicht mehr verwendbar“, lautete die generelle Begründung der Hitler-Justiz.

Was Fahnenflucht und Totalverweigerung in der Zeit zwischen 1914 bis 1989 bedeutet ist das Thema der Ausstellung „Deserteure“, die seit Freitag in der Elefanten Press Galerie gezeigt wird. In ausgestellten Verfahrensprotokollen, Briefen und andere Originaldokumenten ist nachzulesen, welche unterschiedlichen Motivationen den Soldaten in beiden Weltkriegen zur Fahnenflucht bewegten. Symbolisches Szenario der Ausstellung: ein „Gedeckter Güterwagen“, der - in Einzelteile zerlegt - als Stellwand für die Dokumente hinter Glas dient. Mit diesen olivgestrichenen Eisenbahnwagen fuhren während des Zweiten Weltkriegs Millionen Soldaten, Juden und Flüchtlinge in den Tod.

Dokumente über die nachkriegsdeutsche Wiederbewaffnung und Konsequenzen für heutige Totalverweigerer geben einen ebenso historischen wie aktuellen Überblick über die gerichtliche Torturen, denen friedliebende Menschen im 20.Jahrhundert ausgesetzt sind. „Wiederbewaffnung: Ohne Mich!“, „Vietnam und die Folgen“ oder „Gewissensprüfung in den siebziger Jahren“ sind Themenschwerpunkte, in denen die öffentliche Diskussion anhand von Zeitungsartikeln, Verfahrensprotokollen und Gerichtsurteilen nachgezeichnet wird.

Der „Fluchtburg Berlin“ als Rettungsinsel für Kriegsdienstverweigerer und strafrechtlich verfolgte Totalverweigerer wurde ein eigener Themenschwerpunkt gewidmet. Dokumente aus dem behördlichen Papierkrieg, dem sich die in Berlin geschätzten 50.000 Bundeswehrflüchtigen aussetzen, belegen, wie rigide Verweigerer auch heute noch behandelt werden. Aktuelles Beispiel: die beiden nach Berlin geflüchteten Totalverweigerer Gerhard Scherer und Heiko Streck. Für Scherers Auslieferung an die westdeutschen Justizbehörden liegt derzeit ein Antrag beim Berliner Senat vor.

Der Blick in die Zukunft bleibt in der Rückschau der „Deserteure„-Ausstellung nicht auf der Strecke. „In einem dritten Weltkrieg wird es einfach keine Front mehr geben, eine strahlende Front ist überall“, heißt es im Einleitungstext der Ausstellung. Das hierbei auch ökologische Gesichtspunkte eine Rolle spielen, wird unter dem Thema „Militär und Ökologie: Albert Einstein und die Schrotteile einer SS20“ abgehandelt. Das passende Ausstellungsstück: Die Reste einer in der Wüste Kasachstans gesprengten SS20-Rakete sind in einer Vitrine als Leihgabe des Generalkonsulats der UdSSR zu sehen.

Die Ausstellung ist bis zum 15. Oktober in den neuen Räumen der Elefanten Press Galerie, Oranienstraße 25, zu sehen. Öffnungszeiten: 10 bis 18.30 Uhr, sonntags 13 bis 18 Uhr.

cb

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