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Familienbande

Über neapoletanische Gassenjungen und die High-Society  ■  Aus Venedig Arno Widmann

Eine Schmonzette. Jeder, der seine grauen Zellen benutzt, wird sich lustig machen über Nanny Loys Scugnizzi („Gassenjungen“ auf neapoletanisch). Loy, dessen Le quattro giornate di Napoli 1962 den Widerstand der neapoletanischen Gassenjungen gegen die Nazitruppen mitreißend thematisierte, spricht diesmal, nein, er singt vom heutigen Neapel. Halb Musical, halb Tragödie: eine Mischung aus West Side Story und Sophia Loren, um in Klischees zu sprechen. Die Story? Die Insassen eines Jugendgefängnisses in Neapel inszenieren eine Musikshow über das Neapel, wie sie es kennen. Loy konfrontiert die Szenen des Musicals, das im Teatro San Carlo dem reichen Bürgertum der Stadt in einer Wohltätigkeitsveranstaltung - die Kamera streichelt jeden der kostbaren Pelze auf den weniger schönen Schultern der Damen der High-Society - vorgeführt wird mit dem „wirklichen“ Leben der Jungen. Wirklich in Kodakcolor und Dolbysound.

Natürlich ist es Kino. Schnelles Kino, buntes Kino, großes Kino. Nanni Loy führt Regie. Routiniert wird jedes Gefühl bedient. Ein Schelm, wer Schlechtes dabei denkt. Aber angesichts des Produzenten Giovanni di Clemente fällt einem allerhand ein. Der scheint sich vorgenommen zu haben, die Italiener wieder ins Kino zu schleppen. Er spekuliert auf alte italienische Laster: Kinder und Familie. Nanni Loys Scugnizzi sind die Hauptdarsteller. Freche Jungen, melancholische Jungen, starke, schwache, kleine, große... Sie bevölkern die Leinwand und alle sind kleine Gangster: Diebe, Drogenhändler, Mörder. Aber sie haben - wie es sich gehört - goldene Herzen. Sind rührend und werden die Herzen aller MÜtter dieser Welt im Sturm erobern. Die süße Botschaft, die Neorealismus und „commedia italiana“ einte, hier wird sie wieder verkündet: Die Welt ist schlecht, die Menschen aber sind gut.

Ich habe eine Schwäche für diese Message, aber so dumm, ihr zu glauben, bin ich - und sind wir alle - nicht. Aber wir erliegen ihr gerne für ein paar Minuten. Vorausgesetzt, man schmiert sie uns nicht zu dick, nicht zu schmalzig auf die Leinwand. Nanni Loys „Gassenjungen“ triefen, triefen zu sehr.

Ein paar Zacken schärfer in derselben Richtung ist Giacomo Campiottis Corsa di primavera. Auch hier sind Kinder die Hauptdarsteller, auch hier dieselbe Message. Aber was die Sache ganz und gar unerträglich macht: Campiotti schummelt sich und uns ein im Lob der Familie, der heiligen Triade Mutter, Sohn, Vater - und bietet als Happy-End deren Wiedervereinigung und -trennung. Papa und Mamma ziehen wieder zusammen. Der Sohn macht dem Vater wieder Platz im Bett der Mutter. Alles ist wieder so, wie es sein soll. Eine widerliche Spekulation auf die Sehnsüchte nach Geborgenheit, nach Ruhe und Frieden, nach einer Welt ohne Straßenkriminalität, ohne Drogen, ohne Gewalt. Nanni Loys Film werden wir uns vielleicht in zwanzig Jahren einmal ansehen und sagen: „Es ist alles gelogen, aber ich höre es gern.“ Campiottis Film werden wir sicher schon nächstes Jahr Weihnachten sehen. Der Film ist exakt das, was die Fernsehoberen uns an Feiertagen am liebsten auftischen: Familienbande.

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