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Ein bißchen kuschelig und reaktionär

■ Fred Breinersdorfer, Krimi-Autor, zum Tod von Georges Simenon

Simenon ist tot, Maigret lebt. Nachdem der 86jährige Autor (nach schwerer Krankheit) in der letzten Woche in Lausanne die Augen schloß, kramen die Nachrufer bei den Gazetten wieder seine erstaunlichen Rekordleistungen aus der Kiste, allesamt Meilensteine auf dem Wege einer außergewöhnlichen Persönlichkeit: Mehr als 500 Millionen Exemplare Weltauflage (man behauptet, das sei Weltrekord und beleidigt damit Krimimutter Agatha Christie), 102 Maigret-Romane (im ersten Nachruf waren es noch 86! d.L.), 105 Non-Maigrets, über 1.000 Erzählungen, und - in unserem Lande fast schon peinlich - an die 250 Groschenromane. Simenon, kein ängstlicher Beamtentyp, lebte, seit er 16 war, ausschließlich vom Schreiben, ein Autor von fast fanatischer Produktivität. Die ihn heute in hoch angesehenen deutschen Feuilletons feiern, haben zu seinen Lebzeiten keinen seiner Romane besprochen. Jetzt lobt man ihn (ganz zu Recht) als eleganten Erzähler, einen, der sein Handwerk kannte und der sich nicht scheute, die Menschen mit seiner Kunst zu unterhalten, statt sie mit schwer leserlichen Traktaten zu nerven. In der Tat, Simenon war ein höchst beachtenswerter Autor, nach meinem persönlichen Geschmack viel mehr wegen der Non-Maigrets und seiner autobiographischen Schriften. Statt die Skizzen zur Person aus anderen Blättern zu wiederholen, verweise ich deshalb auf eigene biographische Notizen des Autors (zum Beispiel Als ich alt wurde oder Memoires intimes) und auf den kleinen, bei Diogenes erschienenen Band Simenon auf der Couch.

Was da an Persönlichkeit sichtbar wird, ist nicht zu übertragen auf die Hauptfigur der vielen Simenonschen Welterfolge, den Kommissar Jules Maigret. Alfred Marquardt hat in einer fiktiven Biographie des Detektivs mit liebevoller Akribie eben jene Züge aufgedeckt, die ihn zum Krimihit - und bei näherer Betrachtung eigentlich ein wenig unsympathisch machen: Maigret ist der Prototyp des Kleinbürgers mit den alltäglichen, fast anankastisch wirkenden Ritualen, ein wenig borniert, überzeugt kleinkariert, ein Trinker und Haustyrann. Simenon hat ihm die Seele eines Spießers gegeben, damit die Spießer sich in ihm wiedererkennen und seine Autorität für die eigene nehmen, wenn er die Korona seiner (ihm selbstverständlich ergebenen) Inspektoren befehligt, grantelt, muffelt und am Ende so schön recht behält.

Kein Wunder, daß unter meinen deutschen Autorenkollegen viele frank und frei den französischen Meister als Vorbild nehmen. Und wie stolz war ich selbst, als das unbedeutende Feuilleton einer kleinen Provinzzeitung meinen ersten Roman zur Kenntnis nahm (zum erstenmal in der Presse!) und meine Hauptfigur, einen Rechtsanwalt, gleich mit Maigret verglich. Wie bei einem richtigen Doubletake habe ich mich kurz darauf ziemlich erschrocken und gegrübelt, was ich falsch gemacht haben könnte. Denn die Romane Simenons sind Ausdruck ihrer Zeit, also der vierziger und fünfziger Jahre, in denen die wichtigsten von ihnen entstanden sind. Unsere Zeit ist anders; mit Nostalgie haben meine Bücher nichts zu tun. Gleichwohl, die Popularität des Genres und damit eines ihrer größten Meister ist ungebrochen. Warum überlebt sich dieser Maigret nicht, weicht Modernerem? Weil er, so glaube ich jedenfalls, die Träume der Leser so perfekt widerspiegelt. Da ist jene Frankophilie, die deutsche Philologen an die Seine und in die Provence zieht (wer käme da nicht ins Schwärmen, wenn Simenon die Geräusche und Gerüche in einem morgendlichen Bistro beschreibt); da sind die Ängste und Instinkte des Bürgers Jedermann ebenso getroffen wie seine geheime Lust auf Macht. Maigret begibt sich in Gefahr - wir sind dabei! Und dann kommt das allerwichtigste: Er löst den Fall, perfekt, unblutig, und der Täter wird festgenommen und, allez hopp, die Routine läuft wie geschmiert, oft genug bis hin zum Fallbeil; alles nicht mehr der Rede wert. Das Leiden der Täter, wen interessiert es? Das Leiden der Opfer bleibt Kulisse.

So sehr ich Simenons Bücher liebe, ich habe mich (übrigens ähnlich wie bei vielen klassischen Krimis) immer am Schluß gestört: der Täter ist gefunden, das Verbrechen wird gesühnt, die kleine bürgerliche Ordnung, die der Autor vorher demontiert hat, kann wieder hergestellt werden. Auch wenn man weiß, daß Maigret schon im nächsten Buch erneut aufbrechen muß, Gerechtigkeit zu schaffen, das irritiert nicht, weil man weiß, daß es wieder und wieder gut ausgeht.

Diese Art von Krimis, Whodunits mit dem scheinbar so gutmütigen Kommissar (harte Schale/weicher Kern) sind zutiefst restaurativ, wenn nicht gar reaktionär. Der ganze Roman zielt einzig darauf ab, Recht und Ordnung wieder herzustellen; alle Irritationen durch Gewalt und Kriminalität auf dem Weg dahin müssen deshalb belanglos bleiben. Mag sein, daß Simenon die bürgerliche Ordnung um die Mitte des Jahrhunderts nicht nur vortäuschte, daß sie in Paris und der Provinz, in den Vorstädten und den kleinen Nestern existierte. Bloß heute ist es schwieriger geworden, zu schreiben „wie Simenon“, wenn man ein ruhiges (literarisches) Gewissen haben will, weil wir erkennen, wie verlogen der Traum vom Idyll im modernen Märchen Krimi ist. Wer sich mit aktuellen Themen der Gegenwart, sei es Umweltverbrechen oder politische Promiskuität, befaßt, lügt sich und seinem Leser in die Tasche, wenn er einen an der Pfeife schmatzenden ingeniösen Inspektor ausschickt, der alles wieder heile macht. Das wird auch nicht besser, wenn der Kommissar groß und drahtig ist und Pickel hat.

Nein, so meisterhaft Simenon die Charaktere seiner vom Krieg gezeichneten, restaurativen Epoche gezeichnet hat, so unsinnig wäre es für die Kriminalliteratur heute, ihn als verwandelbares Vorbild hinzustellen. Und selbst wenn, er wäre nicht das einzige. Auch der Dadaist Friedrich Glauser und der Autor Friedrich Dürrenmatt (der heute übrigens nichts mehr von seinen Krimis wissen will) haben fast deckungsgleiche Figuren erfunden. Trotzdem, es ist und bleibt erstaunlich, was Simenon aus seinem Kommissar gemacht hat. Also, nehmen wir einen der jetzt zahlreich im Buchhandel angebotenen Bände, ziehen uns ein wenig zurück und lesen mit wohligem Gruseln von Untat und Sühne. Privat wird man ja noch ein ganz klein bißchen kuschelig, reaktionär und spießig sein dürfen; Simenon ist tot und Maigret lebt.

Fred Breinersdorfer war bis Juni '89 Sprecher der „Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur/Das Syndikat“.

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