: „Demokratischer Aufbruch“ in der DDR
■ Weitere Organisation gegründet / Oppositionsgruppen planen landesweites Treffen / Haftbefehle und Geldstrafen in Leipzig
Bonn/Ost-Berlin (dpa/ap) - Die Opposition in der DDR formiert sich. Für Anfang Oktober planen die verschiedenen Gruppen ein landesweites Treffen in Ost-Berlin. Das berichtete jetzt der Erfurter Pfarrer und Dozent Edelbert Richter, einer der Sprecher der neugebildeten Gruppierung „Demokratischer Aufbruch“, in Bonn. Diese Gruppe versteht sich, ähnlich wie das jüngst an die Öffentlichkeit getretene „Neue Forum“, als „politische Vereinigung“, in der ein möglichst breites Spektrum kritischer Personen und Gruppen zusammenarbeiten soll. Richter hofft, daß sich bei dem Treffen in Ost-Berlin die verschiedenen Initiativen auf eine gemeinsame Strategie verständigen können. Auch wenn es zunächst nicht darum gehe, eine Partei zu gründen, könne ein Ziel sein, bei den nächsten Volkskammerwahlen 1991 als oppositionelle Liste anzutreten. Gerade angesichts der Ausreisewelle sei es jetzt wichtig, ein Signal zu setzen und eine neue politische Perspektive für kritische Bürger zu schaffen. „Wenn wir jetzt nichts tun, ist es zu spät“, sagte Richter. Immer mehr kritische DDR-Bürger würden erkennen, daß sie „raus müssen aus dem spontanen, unkoordinierten Einzelaktionismus“. Es gebe durchaus Chancen, daß eine oppositionelle Vereinigung zumindest halblegal geduldet werde. „Wir stehen noch zur DDR und zum Sozialismus“, so Richter weiter. Der „demokratische Aufbruch“ verfolge soziale und ökologische Ziele und sei ein Dialogangebot an die SED über den Sozialismus. Der Monopolanspruch der Partei auf die Wahrheit müsse gebrochen werden.
In Leipzig sind gestern gegen mindestens sechs DDR -BürgerInnen Haftbefehle erlassen worden, die uniformierte und zivile Polizisten am vergangenen Montag im Anschluß an das traditionelle „Friedensgebet“ vor der Nikolaikirche festgenommen hatten. Wie aus den Menschenrechtsgruppen am Donnerstag verlautete, wurden weitere 98 Festgenommene wieder auf freien Fuß gesetzt. Gegen die sechs Inhaftierten sei ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Ihnen werde höchstwahrscheinlich „Zusammenrottung“ vorgeworfen. Der Paragraph 217 des DDR-Strafgesetzbuches sieht dafür eine Höchststrafe von bis zu acht Jahren vor. Die 98 Freigelassenen seien ebenfalls wegen des Verstoßes gegen den Paragraphen 217 zu Geldstrafen zwischen 1.000 und 5.000 Mark verurteilt worden, hieß es. Alle seien „physisch und psychisch“ unter Druck gesetzt worden, schriftlich auf die Einlage von Rechtsmitteln zu verzichten, erklärte ein Sprecher autonomer sächsischer Menschenrechtsgruppen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen