: „Zwischen Ankunft und Abfahrt“
■ Der Bahnhof als sozialgeschichtliches Phänomen
Das Buch zum 100. Bahnhofs-Geburtstag heißt „Zwischen Ankunft und Abfahrt - Zur Geschichte des Bremer Hauptbahnhofs“ und versteht sich als Beitrag zur Sozialgeschichte Bremens. Von der Bremer Sozialwissenschaftlerin Heide Gerstenberger herausgegeben, bringt das Buch fachkundige Aufsätze zur Eisenbahngeschichte Bremens, zur Geschichte des Ausbesserungswerkes, zur Architektur des Bahnhofs und - als überraschendsten Aspekt zur Entwicklung der Bahnhofsmission.
Gerade dieser belächelten, meist gar nicht wahrgenommenen Arbeit im Bahnhof gewinnt Dorothea Schmidt sozialgeschichtlich interessante Seiten ab: Der Bahnhof als Ort unerhörter Mischung von ProletarierInnen, KleinbürgerInnen und feinen Leuten, aber auch von Männern und Frauen, Stellenvermittlern und Zuhältern, GaunerInnen und ums Seelenheil Besorgten. „Das alleinreisende Mädchen“ wurde zu einem ganz neuen sozialen Faktor. Aus verschiedenen „Jungfrauenvereinen“ entstand 1897 die Bahnhofsmission, die sich bis heute um Wöchnerinnen, AusreißerInnen und Verwirrte kümmert.
Die Eisenbahn als kultur-, wahrnehmungs-und wirtschaftsgeschichtlich kaum zu überschätzender Faktor im 19. Jahrhundert: Hier steuert der gelernte Ökonom Rainer Wallentin reiches Material bei. Nehmen wir nur den umfangreichen neuen Regelungsbedarf, den die Eisenbahn mit sich bringt; für die Hannover-Bremer Eisenbahn gab es bereits
vor Eröffnung eine weitläufige Bahnordnung. Mißbrauch der Geleise als Straße, Vieh auf dem Bahndamm, Ein-und Aussteigen aus dem fauchenden Eisenwurm, all das wollte geregelt sein. Und wo neue Linien gebaut werden sollte, sahen sich Verwaltungen und Bahnbauvereine einen neuen ökonomischen Phänomen gegenüber: der Bodenspekulation.
Ein marginales Leckerchen ist der Bericht eines Journalisten des Bremer Bürgerfreunds aus dem Jahr 1847 von der Eröffnung der Bahnlinie Bremen - Hannover. Die Bremer, rügt der Berichterstatter, empfingen den ersten Zug „so kalt und ohne ein freudiges Beifallzeichen“. Am Nachmittag reist er nach Achim, um dort abends die erste Verspätung auf dieser Strecke miterleben zu müssen (drei Stunden). Wie die übermüdeten Fahrgäste fluchten! Aber die Zeit war ja auch noch nicht das, was sie heute ist; überall gab es noch „lokale Zeiten“, die Bremer Zeit war 8 Minuten früher als die Kölner und z.B. 20 Minuten später als die in Berlin. Ein großes Problem für den Eisenbahnbetrieb, da half nur Vereinheitlichung. So entstand die Normalzeit. bu
Edition Temmen, Bremen, 19,80 DM. PS.: Die DB wirbt für ein anderes Geburtstagsbuch eines größeren Eisenbahnverlages. Auf rätselhafte Weise tauchen dort wortgetreu Passagen aus dem oben vorgestellten Buch auf, wie auch Abbildungen. Die DB vertreibt das Abkupferelaborat zum Dumpingpreis, wir ahnen es schon: Sponsoring. Und bekleckert sich so das weiße Geburtstagsjackett.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen