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Ein DDR-BRD-Problem

■ Die Antwort der ungarischen Regierung auf den Protest aus der DDR

Die Regierung der Ungarischen Volksrepublik nahm mit Bedauern zur Kenntnis, daß die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik die Entscheidung zur Lösung der wegen der zunehmenden Zahl der sich in der Ungarischen Volksrepublik aufhaltenden und nicht mehr in die DDR zurückkehren wollenden DDR-Bürger entstandenen und unhaltbar gewordenen Lage mit Befremden aufnahm. Die Regierung der Ungarischen Volksrepublik hatte im voraus und in entsprechender Zeit angekündigt, daß dieser Schritt unumgänglich wird, wenn in dieser Frage vor allem die Verhandlungen der betroffenen Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland bzw. die Anstrengungen der Deutschen Demokratischen Republik zur Rückkehr ihrer Staatsbürger nicht zu Ergebnissen führen.

Die Regierung der Ungarischen Volksrepublik traf ihre Entscheidung im Anschluß daran, als sie von der Ergebnislosigkeit der erwähnten Verhandlungen und Anstrengungen überzeugt war. Deutlich wurde, daß die Führung der DDR nicht in der Lage ist, einen geeigneten Vorschlag zur Lösung der Angelegenheit einer derart großen Zahl von DDR-Bürgern zu unterbreiten. Die Entscheidung ist die Konsequenz einer Lage, die sich unabhängig von den Absichten und Handlungsmöglichkeiten der Ungarischen Volksrepublik herausgebildet hat. Deshalb entbehrt die Feststellung jeglicher Grundlage, daß der ungarischen Seite die Verantwortung für diesen Schritt zukommt.

Die Regierung der Ungarischen Volksrepublik hat mit der zeitweiligen Aufhebung einzelner Punkte des Abkommens über das visafreie Reisen und des mit dem Abkommen verbundenen Protokolls nicht internationales Recht verletzt.

Im Artikel 62 des Wiener Vertrages über Vertragsrecht - auf den sich in der Note des DDR-Außenministeriums berufen wurde - wird anerkannt, daß die grundlegende Veränderung der Umstände als Grund für die Lösung eines Vertrages oder für den Rücktritt davon dienen kann, wenn sich auf Einfluß der Veränderung der Umfang der laut Vertrag zu erfüllenden Verpflichtungen tiefgreifend umgestaltet.

Zur zeitweiligen Aufhebung einzelner Punkte des bilateralen Abkommens und des damit verbundenen Protokolls war die Ungarische Regierung gerade aufgrund der grundlegenden Veränderung der Umstände gezwungen.

Beim Treffen der Entscheidung berücksichtigte die Regierung der Ungarischen Volksrepublik (UVR) auch die Normen, die in bezug auf das freie Verlassen der Länder - eingeschlossen darin auch das eigene Land - in der internationalen Charta über bürgerliche und politische Rechte und im Kapitel über humanitäre Zusammenarbeit des Schlußdokuments des Wiener Folgetreffens der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa festgehalten sind.

Die Anwendung der Bestimmungen des mit dem Abkommen über visafreien Reiseverkehr verbundenen Protokolls sind nicht mit den Verpflichtungen in Einklang zu bringen, die sowohl für die UVR als auch für die DDR aus der Charta, vor allem aus deren Artikel 12 und 13, erwachsen. Laut Artikel 30, Abschnitt 3 des Wiener Vertrages sind früher abgeschlossene Verträge nur in dem Umfang anzuwenden, insofern deren Bestimmungen mit den Bestimmungen in bezug auf den Gegenstand später abgeschlossener Verträge in Einklang gebracht werden können. In dieser Hinsicht ist ein wesentlicher Umstand, daß sowohl die DDR als auch Ungarn nach dem Abschluß ihres bilateralen Abkommens über den visafreien Reiseverkehr der Charta und dem Wiener Schlußdokument beigetreten sind.

Dies belegt, daß die Regierung der UVR im Einklang mit dem internationalen Recht vorgegangen ist.

Seitens der ungarischen Volksrepublik wird wieder unterstrichen, daß sie die Souveränität der Deutschen Demokratischen Republik achtet und in keiner Weise „die Sorgepflicht gegenüber eines jeden Deutschen“ der Bundesrepublik Deutschland anerkennt. Dies wird auch anhand dessen dokumentiert, daß die zuständigen Organe der UVR die Gültigkeit der für die DDR-Staatsbürger in der Botschaft der BRD ausgestellten Pässe nicht anerkennt.

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