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Polen debattiert über den Warschauer Aufstand

Polens Historiker debattieren über Stalins Rolle und Verhalten im Kriegsjahr 1944 / Ende der stalinistischen Verfälschungen, aber auch der Mythologisierung des Aufstandes / Die Fronten der Diskussion verlaufen quer zu politischer Einstellung: Was wollte Stalin wirklich?  ■  Aus Warschau Klaus Bachmann

Am 2.Oktober 1944, nach zwei Monaten Aufstand, unterzeichneten der Führer des Warschauer Aufstandes, General „Bor„-Komorowski, und sein deutscher Gegenüber General von dem Bach in den Abendstunden die Kapitulationsurkunde der Aufständischen. Im Anschluß daran begaben sich die kämpfer der polnischen Heimatarmee in die Gefangenschaft, die Zivilbevölkerung wurde deportiert, Warschau dem Erdboden gleichgemacht. 45 Jahre später diskutieren polnische Historiker und Publizisten erstmals offen darüber, ob das Unternehmen „Warschauer Aufstand“ einen Sinn hatte.

Für Polens neue Volksmacht war das Thema 40 Jahre lang unbequem: Der Aufstand war von der Heimatarmee (AK) ausgerufen worden, die der bürgerlichen Londoner Exilregierung unterstand. Das Volk war begeistert zu den Waffen geeilt, während jenseits der Weichsel einsatzbereite Einheiten der Roten Armee tatenlos dem Wüten der nationalsozialistischen Kriegsmaschinerie zusahen und sogar alliierten Fliegern, die helfen wollten, Landeerlaubnis auf sowjetischen Basen verweigerten.

Polens Propaganda stempelte den Aufstand als verantwortungsloses Verbrechen einer Clique selbstsüchtiger Exilpolitiker ab. In polnischen Schulbüchern der fünfziger Jahre fand sich gar die Behauptung, bei dem Aufstand hätte es sich um eine gemeinsame Verschwörung von Nationalsozialisten und „polnischen faschistischen Reaktionären“ gehandelt. In der Emigration dagegen schoß die Aufstandsmythologie um so ärger ins Kraut: Stalin sei schuld an der Niederlage gewesen, er habe sich geweigert, einzugreifen und die Deutschen die Dreckarbeit machen lassen, um anschließend Polen um so leichter sowjetisieren zu können.

Warum griff die Rote Armee nicht ein? Weil sie andere Sorgen hatte, meint nun ausgerechnet der Exilhistoriker Jan Ciechanowski in einem Interview der Wochenzeitung 'Odrodzenie‘ (Wiedergeburt). Stoßrichtung der Roten Armee sei nicht Warschau, sondern Rumänien gewesen, und entgegen aller Erwartungen des polnischen Widerstandes habe die Rote Armee gegen die östlich von Warschau operierenden Panzerverbände des deutschen Reiches eine Serie von Niederlagen hinnehmen müssen. „Ohne Koordination mit der Roten Armee war der Aufstand dazu verurteilt, so auszugehen, wie er dann auch endete.“ Koordination mit Stalin? fragen da irritiert polnische Kollegen Ciechanowskis - mit Stalin, der ein Jahr zuvor die diplomatischen Beziehungen zur Londoner Exilregierung abgebrochen hatte, nachdem diese Aufklärung über Katyn verlangt hatte? Tatsächlich war der polnische Ministerpräsident Mikolajczyk kurz nach Ausbruch des Aufstandes bei Stalin in Moskau, doch den sowjetischen Führer interessierte der Aufstand weniger als die Frage, ob Mikolajczyk mit dem von Stalin ins Leben gerufenen kommunistischen „Nationalen Befreiungskomitee“ zusammengehen und die in Teheran abgesprochenen Grenzen anerkennen werde. Mikolajczyk war zu beidem nicht bereit, sollte doch der Aufstand gerade beweisen, wer in Warschau und Polen Herr im Hause war: die Londoner Exilregierung und nicht Stalins Marionetten.

Der 'Tygodnik Polski‘ zitiert aus dem 'Bolschewik‘ von 1944, in dem Stalins Sekretär Poskrebysev erklärt: „Genosse Stalin schickte am 5.August die folgende Depesche an den Führer der ersten Weißrussischen Front, Marschall Rokossowski: Die Offensive auf Warschau aufhalten und auf weitere Befehle warten. Es war die einzige richtige und kluge Lösung in leninistischem Geiste, die darin bestand, einen Konflikt zwischen den Deutschen und den polnischen politischen Gruppierungen in Warschau zu verursachen und auf diese Weise sämtliche möglichen politischen und militärischen Vorteile einzuheimsen.“ Die militärischen Vorteile, so äußerte später der Deutsche von dem Bach in Nürnberg, lagen für die Sowjets vor allem darin, daß der Aufstand ganz beträchtliche militärische Kräfte band und zugleich die Ostfront gewissermaßen von hinten bedrohte.

Die politischen Vorteile sind zugleich die Argumente der Aufstandsgegner. Die Stettiner Solidarnosc-Zeitung 'Jednosc‘ (Einheit) zu dem Streit: „Der Ausbruch des Aufstandes war ein großer Fehler. Er verurteilte Warschau zu Tode, verursachte 200.000 Opfer, und gewonnen hat nur Stalin. Mit Hilfe der Deutschen erledigte er die Reste der polnischen Intelligenz als derjenigen gesellschaftlichen Gruppe, aus der sich die staatstragenden Kader rekrutierten. Der Aufstand erleichterte also die Einführung des Stalinismus in Polen.“ An den politischen und militärischen Realitäten wie auch der Westverschiebung, die ohnehin beschlossene Sache gewesen sei, habe der Aufstand nichts ändern können, stellt 'Jednosc‘ die pragmatische Interpretation vor.

Tomasz Strzembosz verteidigt die Entscheidung zum Kampf im Warschauer 'Tygodnik Solidarnosc‘: „Am 27.Juli hätten die Besatzungsbehörden die Sammlung aller wehrfähigen Männer an bestimmten Punkten verfügt. Die Warschauer sollten bei Verschanzungsarbeiten eingesetzt werden. Folge: Warschau wäre fast seiner gesamten männlichen Bevölkerung beraubt worden, die Netze der Untergrundbewegung wären zerstört worden, Widerstand in Zukunft unmöglich geworden. Daher die Entscheidung zum Aufstand.“

Auch habe der Aufstand Mikolaczyks Position gegenüber Stalin gestärkt, findet 'Jednosc‘. Zumal es ohnehin schwer gewesen sei, die Bevölkerung noch länger zurückzuhalten. „Schon der Aufstand an sich, ohne Rücksicht auf den Ausgang, bezeugte vor der ganzen Welt die polnische Freiheitsliebe und unsere Entschlossenheit, jedem Tyrannen die Stirn zu bieten“, stellt die Zeitung die romantische Interpretation vor, derzufolge der Aufstand „ein moralischer Sieg“ war.

Polens Kommunisten haben das Dilemma, in das sie durch ihre frühere Verunglimpfung des Aufstandes geraten sind, nun mit Hilfe einer Kompromißformel gelöst: „Diesen Kampf wollte das Warschauer Volk“, titelte die 'Trybuna Ludu‘ zum Jahrestag des Aufstandsbeginns.

Und gegen etwas, das das Volk wollte, können Kommunisten ja wohl nicht gewesen sein. „Wichtig ist“, findet Jednosc indessen, „daß die nachfolgenden Generationen aus dieser enormen Niederlage Schlüsse gezogen haben: 1956, 1970, 1980. Ohne unvorhersehbare, verzweifelte Ausbrüche, ohne 'alles auf eine Karte zu setzen‘ ist es gelungen, mit gewaltfreier Politik das zu erreichen, wofür die Warschauer Aufständischen mit der Waffe gekämpft haben.“

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