: Das bürgerliche Schlafzimmer
■ Der Autor lehrt Ethnologie in Paris. Der Text ist seinem demnächst bei Klett-Cotta erscheinenden Buch „Wie man sich bettet - Die Kulturgeschichte des Schlafzimmers“ entnommen
Pascal Dibie
Das auf eine Funktion reduzierte „Schlafzimmer“ setzt sich so richtig erst in der Mitte des 18.Jahrhunderts durch; die Ersetzung des früheren Begriffs „Kammer“ ist dabei bezeichnend für die Art und Weise, wie man nun seinen Wohnraum begreift und aufteilt. Auch läßt dies eine bestimmte gesellschaftliche Schicht erkennen, da die gewöhnlichen Unterkünfte der Stadtbevölkerung im 19.Jahrhundert zwar mitunter mehrere Räume haben, diese jedoch nicht speziell nur zum Schlafen dienen.
Das Bürgertum gestaltet seine Gebäude um; das einer ganzen Reihe von Unannehmlichkeiten ausgesetzte Erdgeschoß wird vielleicht auch, weil es zu sehr an die eigene, noch nicht so lange zurückliegende bäuerliche Herkunft erinnert, zugunsten der über dem Zwischengeschoß gelegenen ersten Etage aufgegeben.
Hinter einer so neutral wie möglich gehaltenen Fassade wohnt man, aufgeteilt nach gesellschaftlichen Klassen, übereinander: der oberste soziale Stand im ersten, der niedrigste im sechsten Stockwerk. In ihrem Bemühen um „demokratischere“ Wohnungen machen die Architekten, jedenfalls auf dem Plan, Abstriche an der Größe der Wohnung des Hauseigentümers zugunsten einer größeren Bequemlichkeit der Mieter und führen insbesondere auch „Schlafzimmer“ in den Mietshäusern ein. Doch in den bis 1830 erstellten Plänen stehen alle Räume einer Etage miteinander in Verbindung; dieses Offenlassen war eine Frage des Prestiges, wobei übrigens die Symmetrie, das nicht unbeträchtliche Ausmaß der Grundfläche und die Anzahl der Räume sogar die Aufteilung der Etage in mindestens zwei Wohnungen erlaubten. Damit bewahrte sich der Hauseigentümer, nach der Art der Hotels, in denen mittels einer Tür stets eine Verbindung zwischen zwei Räumen geschaffen werden kann, eine gewisse Flexibilität in bezug auf die Vermietbarkeit. Aus dieser Haltung heraus läßt sich erklären, warum das Schlafzimmer so lange nur ein Raum von vielen war, den allein das Mobiliar näher kennzeichnete.
Das auch heute noch aktuelle Modell der Raumaufteilung der bürgerlichen Wohnung, wie der Architekt der Pariser Oper, Charles Garnier, sie 1891 konzipierte, sieht innerhalb einer Wohnung zwei Bereiche vor: Der erste ist den Empfangs- und den Schlafräumen, der zweite dem Speisezimmer, der Küche und den Nebenräumen vorbehalten. In kleinerem Umfang die Zimmerfluchten der Stadtpalais wieder aufgreifend, werden im „Empfangstrakt“ sämtliche Möglichkeiten dieser Wohnung weitestgehend ausgeschöpft. So wird die Anordnung der Haupträume von dem Bemühen bestimmt, den Besucher in einer bestimmten Reihenfolge und unter Steigerung der Effekte eine Abfolge von Zimmern durchschreiten zu lassen. „Wenn man im letzten Zimmer, welches die Ecke des Gebäudes bildet, angekommen ist“, schreibt d'Aviler in seinem Cours d'architecture, „ist es ein Genuß, die Zimmerflucht zu betrachten, welche sich mit an den äußeren Enden gegenüber den Türen angebrachten Spiegeln sogar noch verlängern läßt.“ Als Krönung des Parcours prangt, an einem Ende wirkungsvoll in Positur gestellt, das Bett.
Das Schlafzimmer, dieser zentrale Punkt der Wohnung, wird von zwei unerläßlichen Elementen flankiert: dem Antichambre als Schrankraum sowie der Garderobe zum Ankleiden - und zum Verstecken einer im Schlafzimmer plötz lich „überzähligen“ Person... Zur Kunst des Einrichtens gehört es, das Bett so aufzustellen, daß der Besucher sich ihm von vorn und gegen das Licht nähert, während der Gastgeber voll im Licht bleibt. An der Seitenwand reflektiert sich in einem großen, über dem Kamin angebrachten Spiegel und seinem gegenüberliegenden Pendant das Schlafzimmer in unendlichen Facetten. Seltsames 19.Jahrhundert, in dem der Bourgeois, um seinen Geschmack und seine Klassenzugehörigkeit zu unterstreichen, unter einem breitgefächerten Angebot verschiedenster, auch falscher Stilmöbel wählen konnte, fast als müsse er seine politischen Überzeugungen vorbringen. Des Esseintes, der Held in Huysmans‘ Werk A rebours, ist einer dieser Wankelmütigen:
„Für ihn gab es nur zwei Arten, ein Schlafzimmer einzurichten: entweder ein aufreizendes kleines Gemach, einen Ort nächtlicher Genüsse daraus zu machen, oder es als ein stilles, einsames Refugium, einen Gedankentempel, eine Art Oratorium herzurichten.
Im ersten Fall lag für empfindsame und etwas überspannte Gehirne der Stil Louis XV. nahe; in der Tat hat das 18.Jahrhundert die Frau mit einer lasterhaften Atmosphäre zu umgeben vermocht, wobei die Möbel die Umrisse weiblicher Reize annahmen und die Windungen und Verzerrungen von Holz und Kupfer die Kontraaktionen der Lust, das Aufbäumen in der Ekstase nachahmten; dazu würzen lebhafte helle Farben das süßliche Schmachten einer Blondine, während Wandbehänge in faden, wäßrigen, fast langweiligen Tönen den leicht salzigen Geschmack einer Brünetten milderten. Im anderen Falle... hätte er sein Zimmer wie eine Mönchszelle einrichten müssen; aber da häuften sich die Schwierigkeiten, denn er für seine Person lehnte die häßliche Kargheit dieser Buß- und Gebetsstätten ab.
Nachdem er das Problem von allen Seiten betrachtet und gedreht und gewendet hatte, glaubte er, den zu erreichenden Zweck in dieser Weise definieren zu können: mit heiteren Gegenständen eine traurige Sache schaffen oder, besser, dem Gemach als Ganzem seinen häßlichen Charakter bewahren und ihm trotzdem eine gewisse vornehme Eleganz verleihen... Schließlich stellte er ein kleines eisernes Bett in dieses Zimmer, ein falsches Mönchsbett.“
Wie Diderot seinem alten Schlafrock nachtrauert, ist ebenso bezeichnend: „Warum habe ich ihn nur nicht behalten? Er war für mich geschaffen und ich für ihn. Er schmiegte sich allen Formen meines Körpers an, ohne irgendwo lästig zu werden ich war malerisch und schön. Der neue, steif und schwer, macht mich zur Puppe. Es gab nichts, wozu er sich nicht gebrauchen ließ, denn die Dürftigkeit ist fast immer diensteifrig. War ein Buch mit Staub bedeckt, so bot sich einer seiner Zipfel als Staubtuch an. Wenn die dick gewordene Tinte nicht mehr aus meiner Feder rinnen wollte, flugs war eine Ecke da: In langen schwarzen Linien zeichneten sich auf ihm die häufigen Dienste ab, die er mir geleistet hatte. Diese langen Linien verkündeten den Literaten, den Schriftsteller, den arbeitenden Menschen. Jetzt sehe ich aus wie ein reicher Nichtstuer: man weiß nicht mehr, wer ich bin.“
Abgesehen davon, daß sie eine relativ junge Herrenmode kennzeichnen (der braune oder blumenbestickte Satinmorgenrock verbreitete sich in Nordeuropa ab 1650), zeugen diese vor Huysmans geschriebenen Überlegungen von dem bürgerlichen Bemühen, den Lebensrahmen und die Darstellung, die man von sich selbst und seinem guten Geschmack geben möchte, miteinander in Einklang zu bringen. Für Diderot besteht das Drama darin, daß er sein Schlafzimmer oder vielleicht sogar die ganze Wohnung völlig neu wird einrichten müssen, damit die Möbel zu seinem neuen Schlafrock passen.
Welches Mobiliar man erwarb, wurde, wie der englische Historiker Theodore Zeldin bemerkt, schließlich von jenem unsagbar ausgeprägten Stilbewußtsein nicht weniger bestimmt als von den Trends der Möbelindustrie. Zum ersten Mal in der Geschichte ist das Mobiliar nicht länger Symbol des Reichtums, sondern es wird einfach zu einer Ansammlung von nützlichen Gegenständen, dieselbe Tendenz zeichnet sich auch deutlich in der Entwicklung der Tapete ab, deren Motive in dem Maße schlichter werden, wie ihre allgemeine Beliebtheit wächst. Mitte des 19.Jahrhunderts glichen Tapeten noch überdimensionalen Wandmalereien und zeigten häufig an die 30 verschiedene Szenen, wie Paillards Motiv der „Eisenbahn Lyon -St.Etienne“ (1854) oder, in noch größerem Maßstab, die „Jagd im Walde“ (1851) von Delicourt, welche 4.000 Gravuren enthielt. Mit der 1858 erfolgten Einführung der Dampfmaschine wurde aus der Tapetenmanufaktur ein riesiger Industriezweig, der 1899 bereits mehr als 200 Fabriken zählte und den Markt mit nun preiswerten Tapeten überschwemmte, deren schlichte und sich wiederholende Muster nur noch eine entfernte Ähnlichkeit mit den kunstvollen extravaganten Gebilden vom Anfang des Jahrhunderts aufwiesen.
Interessanterweise beginnt die Umgestaltung der Wohnung im Hinblick auf Bequemlichkeit und Hygiene mit den trivialsten Räumen, bei ihrer Kehrseite gewissermaßen. Technische Errungenschaften wie kleinere Kamine und die gegen 1870 ausgereifte Entwicklung des Siphons (ein überaus wichtiger Fortschritt für den Geruchskomfort aller Bewohner) tragen dadurch, daß Wasch- und Toilettenräume nun immer dichter an das Schlafzimmer heranrücken können, mit dazu bei, dessen intimen Aspekt zu unterstreichen. Folglich gruppieren sich die berühmten „Nebenräume“ nun um den Schlafraum herum: Boudoir, Arbeitskabinett, Bad und WC bilden so etwas wie eine kleine Wohnung in der Wohnung.
Handbücher der feinen Lebensart weisen sehr nachdrücklich darauf hin, daß der „Sinn der Würde und Schicklichkeit“ die Wahl einer Wohnung maßgeblich beeinflussen müsse. Sie sollte nicht zu viele schlecht zugängliche Ecken und Winkel haben und auf jeden Fall ein Antichambre besitzen. Dieser Punkt ist für jeden, der die Privatsphäre seiner Wohnung gewahrt wissen will, von besonderer Wichtigkeit. Größte Zurückhaltung muß in bezug auf das Schlafzimmer gelten; zu ihm haben nur Eltern und sehr enge Freunde Zutritt. Da Komfort und eine bürgerliche Wohnung - obgleich in verkleinerter Ausgabe - nunmehr auch dem Mittelstand zugänglich sind, entwickelt sich eine „neue Lebensform“, die aus Raummangel und im Namen der Behaglichkeit die Abschaffung des Schlafzimmers fordert. In dem 1930 erschienenen Werk Le Nouveau Savoir-Vivre, pour balayer les vieux usages von Paul Reboux heißt es klar: „Kein erkennbares Bett im Schlafzimmer. Wenn möglich auch kein Spiegelschrank. Dieser kann in einem anderen, zum Schrank oder Ankleideraum umfunktionierten Raum seinen Platz finden. Derart umgestaltet kann in einer modernen Wohnung aus dem Schlafzimmer ein direkt an den großen Salon sich anschließender kleiner Salon werden, ein intimeres Gemach, in welches die Damen sich zum Plaudern und zum Rauchen zurückziehen können.“ Die bürgerliche Wohnung hatte ausgedient, und die mit Wohnraumkrise und Massenwohnbau konfrontierten Architekten mußten sich neue Normen einfallen lassen, bei denen das Funktionelle wichtiger zu werden begann als das Dekorative. Die Wohnung wurde zum „Nutzraum“, den man nach Quadratmetern analysierte und verplante.
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