: Wir drücken ihr die Daumen
■ Marcia Pally hat auf dem Toronto-„Festival of Festivals“ den neuen Greenaway-Film gesehen. Und auch sonst, was ihr gefiel
Die Massen winden sich in Schlangen um die Häuserblocks, für jede der 322 Vorstellungen, sogar für die Mittagsvorstellungen mitten in der Woche. Und die Finanzseiten der kanadischen Presse verzeichnen für die Festivalzeit einen noch dramatischeren Einsturz des Bruttosozialprodukts als letztes Jahr zur gleichen Zeit.
Einer der Festivalbesucher - ein älterer Herr im immergleichen T-Shirt - machte eifrig Notizen. Zu diesem Zweck trug er einen Bergmannshelm: Licht an zum Schreiben, Licht aus zum Filmesehen. Darum waren manche Filme, die ich sah, mit einem Stroboskop-Effekt verbunden. Ich sollte noch erwähnen, daß es auch eine Designer-Version des Bergmannshelms gibt, zwei kleine Halogenbirnchen, die an einem Stirnband befestigt sind. Diese Lampe wurde von einer jungen Frau getragen, die noch dazu eine klobige Brille aufhatte. Sie und der ältere Herr bekommen meinen Preis für die treuesten Seher.
Ich erzähle das alles, weil das Hintergrundstroboskop mein Urteil beeinflußt haben könnte - ihm ist womöglich meine Begeisterung für Peter Greenaways verrückten neuen Film Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber zuzuschreiben, meiner Ansicht nach der beste Film auf dem Festival.
Zu einer mitreißenden Musik von Michael Nyman, die ein bißchen klingt wie ein sexuell erregter Phil Glass (drängender und kurzatmiger als Glass‘ musikalische Schlaufen) lädt Greenaway seine Bilder mit Stoff voll: Gemüse, tonnenweise wurmstichiges Fleisch, Haute Couture, Küchenmesser, Fleischwölfe, Kupferkessel, die roten Samtvorhänge aristokratischer Zimmereinrichtungen und ein fellineskes Aufgebot an Gesichtern, um all das im Laufe des Films in seine ureigene Architektur einzubauen. Wie auch in seinen anderen Filmen untersucht Greenaway Ordnung und Chaos, die Bollwerke gegen die Zerstörungssucht des Menschen - ein immer schon zum Scheitern verurteiltes Zivilisationsprojekt - und die unvermeidlichen Verwesungsprozesse in der Natur.
Greenaways Helden haben stets ein System, mit dem sie die Welt arrangieren und verstehen wollen: im Kontrakt des Zeichners ist es die Filigranarbeit des Zeichnens, in Ein Z und zwei Nullen die taxonomische Wissenschaft der Zoologie, im Bauch des Architekten ist es (natürlich) die Architektur, in Verschwörung der Frauen ist es die Basiswissenschaft Mathematik und in The Cook, The Thief... ist es die Haute Cuisine - der Versuch des Kochs, unsere primitivste Funktion in eine präzise Kunst zu verwandeln und der Versuch des Diebs, sich von seinen sadistischen Schlägereien bei exquisiten Dinners, Wachteln und Terrinen zu erholen. Es gibt noch andere Anspielungen auf gesellschaftliche Institutionen, die für Ordnung sorgen: Die riesengroße graue Küche sieht aus wie eine Kathedrale, das Damenklo - weiß in weiß - wie ein Operationssaal, der Dieb und seine Leute parodieren bei Tisch das Parlament. Aber das nützt alles nichts. Die schönen Arrangements werden mit Gewalt zerstört, durch Erbrechen und Verbrechen, und das, obwohl beide, der Koch und der Dieb, verzweifelt versuchen, die Ordnung zu bewahren.
Richard Bohringer spielt den Dieb wie einen erfolgreichen Piraten; Helen Mirren spielt seine Frau mit großer sinnlicher Würde und tut, was alle Frauen bei Greenaway tun: während die Männer unermüdlich ihre Konstruktionen aufrichten, gebären die Frauen oder töten (die Männer), ganz einfach, indem sie das Objekt der Begierde sind, das die Männer den Verstand verlieren läßt.
Ein Greenaway also, wie man ihn kennt: eine Hymne auf Ordnung und Wissenschaft bei gleichzeitigem Mißtrauen gegenüber Natur und Frauen. Aber es gibt einen erstaunlichen Unterschied zwischen diesem Film und seinen anderen. Greenaways Sympathien liegen normalerweise auf der Seite der männlichen Protagonisten; den Beweggründen seiner weiblichen Charaktere hat er kaum je Aufmerksamkeit geschenkt. In diesem Film nun gilt seine Sympathie zum erstenmal der Heldin, einer Frau, die von ihrem Mann so brutal mißhandelt wurde, daß sie keine Kinder mehr kriegen kann. Der Zuschauer kann sie durchaus vom männlichen Standpunkt aus betrachten (von dem Greenaways und dem der Männer im Film), aber wir werden zugleich eingeweiht in ihre Gedanken, ihre Geschichte. Wir drücken ihr die Daumen.
Wenn überhaupt jemand gewinnt in diesem Spiel, dann ist es der Koch. Auch dies ist ein Unterschied; selten setzt sich bei Greenaway die Wissenschaft durch gegen Verfall und Untergang. Ohne den Koch kann Mirren nicht triumphieren; es ist seine Kunstfertigkeit, die im umwerfenden Finale dazu führt, daß sich die Gewalt des Diebs gegen diesen selbst wendet. Mirren nimmt sich einen Liebhaber, den ihr Mann auf groteske Weise ermordet. Auf Mirrens Bitte hin bereitet der Koch die Leiche zu einem makaberen Mahl zu, mit vorgehaltener Pistole zwingt sie ihren Mann, es zu essen. Der Sieg jedoch ist bittersüß: Mirren hat zwar ihren Mann geschlagen, aber ihren Liebhaber verloren. Auch der Koch hat den Urheber von soviel Grausamkeit besiegt (Grausamkeit gegenüber seinen kulinarischen Delikatessen genauso wie gegenüber Menschenleben), aber indem er den Dieb bei Tisch bediente, stellte er seine Kunst in den Dienst der Barbarei.
Die anderen großen Filme in Toronto: Kieslowskis Kurzer Film über das Töten, Hou Hsiao-Hsiens Stadt der Traurigkeit (von ihnen war in dieser Zeitung ausführlich die Rede) und Bertrand Taverniers Das Leben und sonst nichts. Letzterer lebt nicht nur vom grandiosen Schwung und der Schmuddeligkeit einer Kriegsgeschichte und liefert dazu noch eine elegante Romanze am Rande (zwischen Philippe Noiret und Sabine Azema), sondern erstaunt durch Ironie: Zu dem Zeitpunkt, als tausende von Familien über Land ziehen auf der Suche nach Hinweisen auf ihre im Ersten Weltkrieg verlorenen Männer und Söhne, schickt die französische Regierung ihre Armee los, um eine einzige Leiche aufzutreiben, die garantiert nicht zu identifizieren ist keine Ausländer, keine Schwarzen! -, damit sie mit Pomp und Würden im Grab des Unbekannten Soldaten im Pariser Triumphbogen beigesetzt werden kann. Diese kleine Wendung im Plot macht aus dem, was sonst nur ein Kostümfilm geworden wäre, einen ironischen, wenn nicht klassischen Antikriegsfilm, und zum Nachfolger von Remarques Im Westen nichts Neues mit vielleicht (wegen der Romanze) ein bißchen mehr Hoffung.
Nicht weniger kraftvoll waren ein paar kleinere Filme. In seinen brillanten und strengen Speaking Parts zeigt Atom Egoyan die Wirkung der Medien auf menschliche Wahrnnehmung und Handlungen. Sweetie ist Jane Campions verstörendes Porträt von psychotischen Familienbanden, in dem das größte Unbehagen nicht von den Personen kommt (trotz Genevieve Lemons Spiel), sondern mit den Mitteln des Films ausgelöst wird. Jane Campions Kamera ist so schmerzhaft genau, distanziert und verrückt wie Sweetie selbst. In seinem neuen Film Mystery Train geht es Jim Jarmusch wieder um Leute, die zufällig am selben Ort sind - Amerika, zum ersten Mal bei Jarmusch, in Farbe -, um ihre Hoffnungen, Ekel und Langeweile. Jarmusch ist vielleicht Amerikas erster komischer Existenzialist. Matt Dillon und die schöne Kelly Lynch spielen die Hauptrollen in Gus Van Sants Drugstore Cowboy, zwei Drogensüchtige im amerikanischen Nordwesten auf der Suche nach Apotheken, wo sie durchs Klofenster einsteigen können. William Burroughs, der Vater der amerikanischen Drogenliteratur, spielt in einer Gastrolle einen süchtigen Priester. Er schimpft auf die Regierung, die die Drogenpanik dazu ausnutzt, die gesamte Bevölkerung auszuspionieren.
Roger and me ist das Porträt der Stadt Flint in Michigan. Der General Motors-Boss Roger Smith schließt ein Zweigwerk in der Stadt und eröffnet es südlich der Grenze neu, Tausende werden arbeitslos. Roger and me wurde vom Publikum zum populärsten Film des Festivals gewählt. Ich persönlich ziehe den weit subtileren Film Eversmile, New Jersey vor, eine Art auf den aktuellen Stand gebrachte Passionsgeschichte. Jesus hat die Zimmerei aufgegeben. Er zieht als Zahnarzt umher und predigt den Armen und Beladenen Patagoniens die Frohe Botschaft der Mundhygiene gegen die falsche Lehre der seßhaften Zahnärzte und anderer Leute mit Hohlräumen im Kopf.
Zuletzt zwei Filme, bei denen mir nur die Titel gefallen haben: Whoregasm und Rat Life and Diet in North America.
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