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Lee(h)res Jugendhilferecht

Koalitionsfraktionen beschließen Gesetzentwurf / Auch in Zukunft kein Recht auf einen Kindergartenplatz / Lediglich eine „Empfehlung“ an die Bundesländer  ■  Aus Bonn Ferdos Forudastan

Die Regierungskoalition in Bonn hat eine „historische Chance“ vertan. Dies jedenfalls müßte Familienministerin Ursula Lehr finden: Noch vor wenigen Monaten hatte sie so vollmundig ihre Ankündigung kommentiert, im neuen Jugendhilfegesetz werde der einklagbare Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz verankert. Daß dies jetzt doch nicht geschieht, beschlossen die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP bei der gestrigen Kabinettssitzung in Bonn. Der verabschiedete Gesetzentwurf empfiehlt lediglich, daß Bundesländer „für einen bedarfsgerechten Ausbau (der Betreuungseinrichtungen für Kinder, d.Verf.) Sorge tragen“ sollen. Mit dieser unverbindlichen Formulierung wird das geplante Gesetz jedenfalls kaum etwas an der momentanen Situation ändern.

Eine halbe Million Kindergartenplätze fehlen derzeit. Durchschnittlich ein Drittel aller Kinder hat bis zum Schulbeginn keine Chance auf einen Kindergartenplatz, in manchen Regionen sind es über die Hälfte aller Kinder. „Nur minimal“, so die Familienministerin, ist auch das Angebot für die Betreuung von Kindern im Alter bis zu drei Jahren. 54.000 Kinder können derzeit in Krippen- und Tagespflegeeinrichtungen unterkommen - 1,8 Millionen in diesem Altersbereich leben in diesem Lande. 46.000 von ihnen werden von Vater oder Mutter alleine aufgezogen, etwa 550.000 haben eine berufstätige Mutter. Von 36 Kindern unter drei Jahren bekommt eines einen Krippenplatz, bekannte gestern auch Ursula Lehr. Damit steht die Bundesrepublik im europäischen Vergleich an letzter Stelle.

Völlig unzureichend ist die Versorgung mit Hortplätzen: Derer gibt es gerade eben 100.000 - für fünf Millionen Kinder zwischen sechs und 15 Jahren, von denen mehr als 600.000 bei nur einem Elternteil leben und zwei Millionen eine berufstätige Mutter haben.

„Wissen Sie, Politik ist die Kunst, Kompromisse zu schließen.“ So begegnete Ursula Lehr gestern dem Einwand, von dem ursprünglich geplanten einklagbaren Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz sei nichts übriggeblieben. Tatsächlich ist der Entwurf in seinen wichtigsten Punkten nicht einmal mehr ein Kompromiß. Vor allem unionsgeführte Landesregierungen - wie die Ernst Albrechts in Niedersachsen - und die CSU haben sich gegen Frauen-Union und FDP durchgesetzt. Die Gründe für ihre starre Ablehnung des Rechtsanspruchs: Er würde Länder und Kommunen viel Geld kosten und stünde im Gegensatz zum traditionellen Frauen und Familienbild der Union.

Gegen einen ursprünglichen Referentenentwurf, der einen Rechtsanspruch vorgesehen hatte, waren denn auch weite Teile der CDU/CSU-Fraktion Sturm gelaufen. Die Familienministerin wolle wohl Kinder bereits im Alter von zwei Jahren außerhalb der Familie betreuen lassen. Von einer „Verstaatlichung der Kindererziehung“ war die Rede und davon, daß der Anspruch nicht mit der ursprünglichen Rolle der Frau als Mutter in Einklang stehe.

Daß die Versorgung mit Kindergartenpätzen sich nicht entscheidend verbessern wird, trifft vor allem die Frauen, von ihnen besonders alleinerziehende Mütter und natürlich auch deren Kinder. Noch im Juli hatten einige der sogenannten Modernisierer in der Union ihre konservativen Parteifreunde mit ei nem Argument von dem Rechtsan spruch zu überzeugen versucht, Fortsetzung auf Seite 2

das gerade bei den Rechten eigentlich hätte verfangen müssen: Ohne

familienergänzende Betreuungseinrichtungen würde das Ja zum Kind für Alleinerziehende erschwert, schrieben Böhr, Fink und Süssmuth. Renate Schmidt, SPD-Abgeordnete und Vorsitzende des Arbeitskreises „Gleichstellung von Frau und Mann“, kritisierte den Entwurf vor allem deswegen scharf, weil er Frauen weiterhin vor der Alternative stehen lasse, entweder einen Beruf auszuüben oder sich um die Betreuung ihrer Kinder zu kümmern. „Mit großer Bestürzung“ nahm die „Kommission zur Wahrung der Belange der Kinder“ im Bundestag zur Kenntnis, daß es auch künftig keinen Anspruch auf einen Kindergartenplatz geben wird. Ihre Sorge: Kinder zwischen drei und sechs Jahren bräuchten unbedingt ein ganzheitlich orientiertes, familienergänzendes Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebot.

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