Chinesisches Feiertagsidyll unter Kriegsrecht

Rummel ohne Volk auf dem Tiananmen: Soldaten stehen Spalier und schlürfen Limonade / Freikarten zum sowjetisch-chinesischen Fußballmatch für die Studenten / Ausländische Diplomaten geben sich nicht in Feststimmung  ■  Aus Peking Georg Blume

Schützenfest auf Tiananmen. Die Mao-Republik organisiert das Volksvergnügen. Gerade marschiert eine Jugendkapelle im weichen Paukentakt über den Platz und durch die Pforte zur verbotenen Stadt. Doch schon wird sie von kreischenden Kinderstimmen übertönt. Dort dreht sich ein Jahrmarktskarussell auf Hochtouren. Stolze Eltern winken zu strahlenden Kindergesichtern herüber. Wer genau horcht, hört das Schnappen der Fotoapparate. Bereitwillig lächeln ganze Familien in die Kamera - ob vor dem wohlbekannten und säuberlich wiederhergestellten Mao-Porträt oder mit der überlebensgroßen Disney-Schneewittchenpuppe in Vaters Arm. Die Revolution ist 40 Jahre alt.

Das Entzücken nimmt kein Ende. Acht kleine Mädchen, fein geschminkt und aufwendig verkleidet, führen einen alten Volkstanz auf. Im naheliegenden Schloßparksee rudern junge Pärchen mit buntgeschmückten Booten um die Wette. Wieder näher am Tiananmen lauscht die Menge der hohen Stimme eines Sängers alter Volksweisheiten. Vor ihm hat in den ersten Reihen eine Hundertschaft Soldaten Platz genommen. Die Grünhemden schlürfen alle an gelber Limonade. Doch als das Lied endet, applaudieren sie nur schwach. Tatsächlich schauen die Genossen nicht sehr lustig drein. Sie schwitzen allzusehr mit Hemd und Uniform an diesem außergewöhnlich warmen Frühherbsttag. Auch fehlen ihnen Kinder und Familie. Da gibt es wenig zu lachen auf Maos buntem Rummelplatz. Warum aber sind es dennoch so viele, die uniformiert und mit ernsten Gesichtern durch die fröhliche Menge schleichen?

Auf dem Tiananmen feiern Zehntausende, so als ob sie eines nicht wissen wollten - der Rummel findet unter Kriegsrecht statt. Soldaten stecken hier den Rahmen ab. Am Rande des Tiananmens stehen sie Spalier, lassen nur denjenigen Einlaß, die mit einer roten Einladungskarte nachweisen können, daß sie von Partei oder Betrieb bestimmt wurden, die Revolution an ihrer heiligsten Stätte zu feiern. Nicht dem ganzen Volk und schon gar nicht dem Pekinger Volk sollte dieser Tag gehören. Für die chinesische Regierung ist es ein erfolgreicher Tag, der am Abend mit einem großen Feuerwerk über dem Tiananmen endet.

Wo noch vor wenigen Monaten Soldaten wachten, das Maschinengewehr im Anschlag, stehen heute Blumentöpfe, an allen Straßenkreuzungen und im kurzen Abstand auf der Changan-Avenue zum Tiananmen. Nur wer in jedem der unzähligen Blumengestecke, dem Feiertagsschmuck, einen Soldaten erkennt, vermag sich an das Peking der ersten Kriegsrechtstage zu erinnern. besonders reichlich mit Blumen verziert ist denn auch das Hauptgebäude der Firma Stone, deren Gründer Wan Runnan heute im Pariser Exil als Generalsekretär der Widerstandsbewegung „Bund für die Demokratie in China“ amtiert. Für die Firma Stone hat sich die Pekinger Regierung Besonderes vorgenommen. Ihr Genesen soll als Beispiel dafür dienen, daß der Fortschritt nicht nur im Zuge der Liberalisierung, sondern auch mit verstärkter zentraler Planung verfügbar ist.

Auf Befehl versteckt in ihren Zeltdörfern am Rande der Stadt verbringen die Hüter des Kriegsrechts den Gründungstag der Republik. Nur an dem einen, symbolischen Ort steht demonstrativ ein schwerbewaffneter Militärtrupp Wache - am Eingang der Beida-Universität, wo sich die Studentenbewegung im Frühjahr zuallererst formiert. Noch sind die meisten Studenten nicht in ihre Wohnheime zurückgekehrt. Der Universitätsbetrieb beginnt - mit einer Woche politischer Sonderschulung - Mitte Oktober. Zum Feiertag werden Freikarten für ein Fußballspiel zwischen der chinesischen Nationalelf und einer sowjetischen Vereinsmannschaft ausgeteilt. Nur wenige Studenten zeigen sich dafür interessiert. Ebensowenig wie für den westlichen Journalisten, denn der ist hier ein unerlaubter Gast. Zögernd erläutert ein junger Student die von der Universitätsleitung verfügten Anordnungen. Ihm ist nicht wohl dabei. Meter weiter prangen Fotos von Deng Xiaoping und anderen Führern der Kommunistischen Partei an jenen Stellwänden, auf denen im Mai die täglich neuverfaßten Wandzeitungen der Studentenbewegung klebten.

Von ihnen, den Studenten, sollte an diesem Gründungstag der Volksrepublik keine Rede mehr sein. In den Festreden der Staats- und Parteiführer wurden sie nicht erwähnt, und auch von der „notwendigen Niederschlagung der Konterrevoltuion“ ist nun kaum mehr die Sprache. Jiang Zemin, der KP-Chef, und Li Peng, der Premierminister, wollten an diesem Jahrestag einen Schritt weitergehen, das Blatt wenden. „Die Abschaffung des Kapitalismus durch den Sozialismus ist der vorherrschende historische Grund“, wehrte sich Jiang Zemin schon am Freitag gegen den europäisch-westlichen Zeitgeist. Am 1.Oktober, so die Botschaft der KP-Fürsten, ist das chinesische Zwischenspiel beendet, das mit dem Tod Hua Yaobangs im April begann. Schon die nächsten Treffen von Politbüro und Zentralkomitee werden den korrigierten, auf wirtschaftliche Dezentralisierung ausgelegten Kurs der Partei festlegen, der vom fünften Plenum des Nationalkongresses noch vor Ende des Monats zu billigen ist. Dann ist China wieder auf dem richtgen Gleis.

Ganz in diesem Sinne auch die Rede Li Pengs beim Empfang für chinesische Funktionäre und Diplomaten am Samstag in der Großen Halle des Volkes: China stünden mindestens drei Jahre der Politik des knappen Geldes bevor, um die Inflation zu vermindern und andere wirtschaftliche Probleme zu lösen, die zur Unzufriedenheit geführt hätten. Zudem werde die Rückzahlung der Auslandsschulden in Höhe von 40 Milliarden Dollar neue Schwierigkeiten aufwerfen. Um „die Freunde im Ausland“ zu beruhigen, die „einige Zweifel in bezug auf die politische Orientierung Chinas“ hätten, unterstrich er jedoch den Willen der chinesischen Führung, die Politik der Öffnung und der Reformen fortzusetzen.

Nach der 20 Minuten dauernden Rede Lis und seinem Toast auf den „großen Sieg über die konterrevolutionäre Rebellion“ mit dem das Jahr 1989 in die Geschichte eingehen werde, verließen die geladenen westlichen Botschafter demonstrativ die Halle, wo das Programm mit Gesängen und Tänzen fortgesetzt wurde.