: DDR-Kapitulation mit souveräner Geste
■ Um die 40-Jahr-Feier zu retten, läßt die Ostberliner Führung die Botschaftsflüchtlinge ziehen
Euphorischer Jubel, Tränen, das Absingen der bundesdeutschen Nationalhymne - Szenen, die in den letzten Monaten immer dann über die Bildschirme flimmern, wenn ausreisewillige DDR -BürgerInnen ihre Forderung nach sofortiger, direkter Übersiedlung in die Bundesrepublik durchsetzen konnten. Doch die jetzige Lösung ist nicht einfach der neuerliche Durchbruch für fluchtwillige DDRler; er signalisiert zugleich ein kaum noch für möglich gehaltenes Umschwenken der DDR-Führung. Denn anders als bei der Regelung für die Ungarn-Flüchtlinge, die gegen den massiven Widerstand aus Ost-Berlin zwischen Bonn und Budapest ausgehandelt wurde, war die jetzige Lösung vom unerwartet-spektakulären Okay der DDR-Führung abhängig. Um das symbolträchtig zu verdeutlichen und zumindest die Fiktion einer souveränen Entscheidung aufrechtzuerhalten, machte die DDR die Ausreiseroute über ihr Territorium zur Bedingung. Das verdeutlicht, wie sehr sich in den letzten Wochen der politische Handlungsspielraum Ost-Berlins auf das mühsam-erfolglose Aufrechterhalten der Fassade reduziert hat.
Tatsache ist, daß die Botschaftsflüchtlinge in Prag und Warschau es sich leisten konnten, das bis zum Wochenende weitreichendste Angebot des Honecker-Unterhändlers Vogel auszuschlagen. Der hatte mit dem Versprechen der Ausreise innerhalb der nächsten sechs Monate versucht, die Ausreisewilligen zur vorübergehenden Heimreise zu bewegen. Doch die über 3.000 Botschaftsflüchtlinge, deren Situation im Prager Palais Lobkowitz sich von Tag zu Tag dramatisch verschlechterte, blieben kompromißlos bei ihrer Forderung. Ihr Abschiedserfolg gegenüber einem System, das mit seinem obrigkeitsstaatlich-bevormundenden Gehabe ihren Ausreisewunsch meist über Jahre hinweg nährte, mag ihre euphorische Stimmung zusätzlich anfachen. Daß sich die Übersiedlung über Dresden via Reichsbahn vollzog, muß ihnen fast als Krönung ihres Triumphs erscheinen: eine letzte Reise durch die schon ehemalige Heimat, bei der ihnen der Staat nicht mehr anders in die Quere kommen konnte als durch die Übergabe der Ausreisepapiere. So wird auch noch der letzte schwache Versuch der DDR, mit der formalen Legalisierung der Aktion ihr Gesicht vor der heimischen wie internationalen Öffentlichkeit zu wahren, vereitelt. Ein Jammerspiel, mit dem die DDR da in die Woche des als Jubelfeier konzipierten 40. Gründungsjubiläums schlittert.
Fassade fürs Jubiläum
Für die bevorstehende Staatsfeier zu retten, was zu retten ist, mag das vordergründige Kalkül der DDR-Führung bei der jetzigen Lösung darstellen. Vom drohenden Widerspruch aus gigantisch-selbstgerechten Inszenierungen bei ungebrochenem Ansturm Ausreisewilliger in Prag und Warschau wäre selbst das beachtliche Maß starrköpfiger Ignoranz überfordert worden, das die SED-Führung in den letzten Monaten demonstriert hat. Die ungelöste Situation wäre mehr gewesen als ein Wermutstropfen im Jubiläumssekt. Sie hätte die Scheinhaftigkeit des Ostberliner Massenaufgebots ins Unerträgliche gesteigert und zugleich den Unmut im Lande weiter angeheizt. Zur Tragik der Ostberliner Führung gehört es, daß letztlich auch die scheinbar souveräne Geste vom Wochenende die Feiern nicht retten und die Frustration der Zurückgebliebenen kaum dämpfen wird.
Über die Rolle des vom Krankenbett zurückgekehrten Honecker bei der jetzt gefundenen Transitvereinbarung kann man spekulieren. Als sicher kann gelten, daß der Staatsratsvorsitzende, mit dessen Namen sich die internationale Anerkennung der DDR verbindet, eine Einigung favorisierte, um am 7.Oktober zumindest die schreiendsten Negativschlagzeilen in der internationalen Presse zu verhindern.
Das Plazet soll nach den Propagandasalven der letzten Wochen und der Ausladung der SPD-Gesprächsdelegation deutsch -deutsche Normalität suggerieren: die Rückkehr an den Verhandlungstisch, den Rückgriff auf die Tradition „humanitärer Lösungen“. Als solche wird die Vereinbarung in einer äußerst moderaten 'adn'-Meldung vom Sonntag bezeichnet (siehe Seite 2). Von den Attacken gegen die Bonner „Menschenhändler“, die die ungarische Lösung begleiteten, bleibt nichts übrig.
Ob Druck aus den Bruderländern die SED zum Einlenken bewegte, läßt sich nicht belegen. Daß der neue polnische Außenminister eine baldige Lösung in Aussicht stellte, kam kaum überraschend. Auch hier scheint Bonn die Verbesserung der bilateralen Beziehungen und die in Aussicht stehende Wirtschaftshilfe in die Wagschale geworfen zu haben. Auch ohne das Ostberliner Plazet hätte Warschau in den nächsten Tagen die DDR-Führung mit einer eigenen Lösung düpiert.
Daß die Einigung dann doch überraschend schnell und - laut 'adn‘ - „auf Vorschlag der DDR“ gefunden wurde, dürfte auch in Moskau wohlwollende Aufnahme finden. Denn der medienbewußte Gorbatschow wird seine absehbare Vereinnahmung für die SED-Politik bei den Jubiläumsfeiern jetzt eine Spur besser ertragen.
Repressiver Auftakt?
Sondervereinbarungen dürfte es dagegen zwischen Ost-Berlin und Prag gegeben haben. Die Abriegelung der Botschaft durch CSSR-Sicherheitskräfte deutet darauf hin, daß die DDR für ihre Entspannungsgeste zumindest in Prag Präventivmaßnahmen herausgeholt hat, die eine erneute Besetzung verhindern sollen.
Dennoch ist das Einlenken aus Ost-Berlin alles andere als eine Problemlösung. Am ungebrochenen Ausreisewillen vieler Bürger und an ihrer Findigkeit, Wege in den Westen aufzuspüren, ändert die jüngste Entwicklung nicht. Auch die Opposition wird weiter versuchen, die Krise der DDR endlich für Reformen zu nutzen. Der sich organisierende Druck im Land dürfte ein nicht unerhebliches Moment bei der Ostberliner Entscheidung gespielt haben. Das jedoch heißt keinesfalls, daß die Führung sich auf den Dialog vorzubereiten beginnt - im Gegenteil. Denkbar ist auch, daß man sich in Ost-Berlin mit einer moderaten Linie gegenüber den Ausreisewilligen den nötigen Handlungsspielraum verschaffen will, um nach der Jubelfeier gegen die Opposition vorzugehen. Andernfalls würde das Stillhalten der letzten Wochen gegenüber den oppositionellen Gründungsinitiativen einen Kurswechsel signalisieren, an den bislang noch niemand zu glauben vermag.
Matthias Geis
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