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Ein offener Brief an die 'Junge Welt‘

Von Hermann Kant, Präsident des DDR-Schriftstellerverbands, Mitglied des ZK der SED  ■ D O K U M E N T A T I O N

(...) Weil sie den 40.Jahrestag der DDR für etwas halten, was man feiern darf, hatten Schriftsteller der DDR, kämpferische Teilnehmer und Teilhaber an all diesen 40 Jahren oder doch an beträchtlichen Teilen davon, zu einer Lesung ins Maxim-Gorki-Theater geladen. Das Publikum hörte seine Literaten so reden, wie es seine Literaten mag: Beteiligt, verantwortungsbewußt, kritisch, selbstkritisch, witzig, grimmig, nachdenklich, skeptisch und optimistisch. Am Tage danach fand dasselbe Publikum in der Zeitung dieselbe Veranstaltung als ein patriotisches Kränzchen dargestellt, als eine Riege ältli cher Beifallspender, als welken Festschmuck zum schmucken Feste. (...)

Die Berichterstattung ließ vom Geiste der Veranstaltung nur das Begeisterte übrig - zur Entgeisterung der Teilnehmer und zum Gähnen des Lesers. - Einer der Schreiber, die aus ihren Arbeiten vorgetragen hatten, war ich, und als Verbandspräsident hatte ich eingangs gesagt, dies sei mein Land, und ich fände kein versöhnliches Wort für jene, die ihm ans Leben wollten - selbstredend fand sich solche Aussage (die ich hier noch einmal bekräftigen möchte) in allen Blättern herausgehoben wieder. Eine andere Aussage, im nämlichen Dreiminutenvorspruch enthalten, gelangte ebenso selbstredend nicht in die Blätter. Wen und was ich kritisieren darf, bestimmen sie, und da ich in diesem Falle gar sie, die Blätter, und vor allem ein bestimmtes Blatt kritisiert hatte, bestimmten sie den Fortfall meiner unmöglichen Äußerung. Mit Blick auf die Tatarenmeldung des Tages - Kurzfassung: Kellner rauchte Mentholzigarette in Budapest, wachte auf und war geschändet in Wien! - hatte ich im Maxim-Gorki-Theater erklärt, mein Verlangen nach allgemeiner Abrüstung erstrecke sich von den Atomraketen bis zu den Räuberpistolen und die Lage sei zu kompliziert, als daß man nun auch noch blauen Dunst über sie blasen dürfe soweit ich sehe, hat niemand es gedruckt, womöglich, weil jemand Leitendes es für unbedeutend befunden hatte. Obwohl es, und das ist das Schlimmere, der leitenden Befunde bei uns häufig gar nicht mehr bedarf. Wir sind Manns genug, die unangenehmeren Entscheidungen selbst unter den Tisch zu kehren. - Kann natürlich sein, ich bilde mir dergleichen nur ein (man weiß schließlich, wie diese Schriftsteller sind), aber sogar die Zuhörer bei besagter Veranstaltung benahmen sich, als hätten sie nicht recht gehört, trauten ihren Mienen nach ihren Ohren nicht und nahmen vorweg, was die Redakteure dann nur noch redaktionell berücksichtigen muß ten: Unpassendes als Vor kommnis kann nicht vorgekom men sein. (...)

Pädagogisch gestimmte Personen lösten eine Aussage meines 'Zeit'- und 'Junge-Welt'-Beitrags aus dessen Umfeld und beauftragten die ihnen unterstellten Jugendlichen, den Sinngehalt der folgenden Satzverbindung aufzuspüren und seine Triftigkeit anhand von fünf Beispielen zu belegen: „Wir haben uns den anderen weggenommen; sie wollen uns wiederhaben.“

Allen Mißverständnissen halbwegs vorzubeugen: Ich bestehe auf dieser Ansicht; in ihr drückt sich etwas aus, das jene 40 Jahre, die wir feiern sollen und feiern wollen, zu einer Zeit der Kämpfe machte. Wer übersieht, daß wir uns den anderen weggenommen haben und sie uns wiederhaben wollen, kann von den Kämpfen der letzten Tage keinen verstehen. Und kann natürlich auch keinen dieser Kämpfe bestehen.

Insofern ist gegen die Beschäftigung mit meiner Formulierung gar nichts einzuwenden, aber striktesten Einwand erhebe ich, wenn man so tut, als sei sie alles, was ich zu den Kämpfen der letzten Tage und Wochen zu sagen weiß. Wenn man mich als einen hinstellt, der glaubt, unsere derzeitige Niederlage sei einzig auf das Wirken des allbösen Klassenfeindes zurückzuführen. Wenn man mich zu denen rückt, die am Klassengegner bemängeln, daß er sich wie ein Klassengegner aufführt. Wenn man mich klingen läßt, als wüßte ich zur schmählichen Wanderbewegung dieser Wochen nur von bösen Buben zu sagen, die da locken oder unsere braven Mitropa-Kellner mit Menthol vergiften. Einwand erhebe ich, wenn man mich zu denen zählt, die nicht fragen wollen, warum man den bösen Buben wohl Folge leistet und Freunde, Nachbarn, Arbeit, Wohnung, Pläne, Heimat und kleinen Besitz in den Wind schlägt. Schärfsten Widerspruch lege ich ein, wenn man den Anschein erweckt, ich sei des Glaubens, meines Gegners Kraft allein veranlasse junge Frauen, ihre Kinder über Botschaftszäune zu reichen und dieselbe Kraft bewege junge Männer, freiwillig Quartier in fremden Kasernen zu suchen...

Ja doch, die anderen wollen uns wiederhaben, und wer zu ihnen geht, löst diesen Willen auf persönlichste Weise ein. Das jedoch entbindet uns nicht der Frage, was an unseren Verhältnissen jemanden veranlaßt, jemanden, der eben noch Bürger dieses Landes, Schüler unserer Schulen, Leser Eurer Zeitung war, sich auf undurchschaubare andere, unzweifelhaft riskante Verhältnisse einzulassen. So wahr es auch ist, so bringt es uns doch nicht weit, wenn wir andeuten, gar mancher habe beim Weggang weniger Klassen als Hubraumklassen im Auge und verspreche sich goldene Berge dort, wo sich doch so viele rostige Halden türmten. Jetzt kommt es nicht so sehr darauf an, die anderen schlecht, als vielmehr das Eigene gut zu machen. Weniger vor dem Sumpf da drüben warnen (ja, es gibt ihn, ich weiß, und seine Beschreibung soll auch künftig nicht verboten sein); mehr an die eigene Nase fassen (Selbstkritik nannte man das vor Zeiten). Wir müssen uns an der eigenen Nase aus dem Sumpfe ziehen - zugegeben, ein literarisches Verfahren, aber zu viel anderem reicht meine Bildung nicht hin.

Aber meine literarische Bildung reicht doch zu, von der Vergeblichkeit zu ahnen, auf die wir uns einrichten müssen, wenn wir die Dinge nicht bei ihren Namen nennen. Eine Niederlage ist eine Niederlage, und passe sie noch so schlecht in den Vorabend eines gloriosen Feiertages. Die Züge, mit denen die Deutsche Reichsbahn, die einstens Lenin aus der Schweiz durch Deutschland nach Rußland transportierte, nunmehr Bürger der Deutschen Demokratische Republik aus Warschau nach Braunschweig verfrachtet, sind nun einmal wahrscheinlich keine Siegeszüge. Unseres Sieges jedenfalls. (...)

Es ging um eine Freiheit, von der sie da drüben glauben, sie hätten die Fülle davon, und von der wir hierzulande denken, sie bestünde in der Abwesenheit von Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Sozialelend und Bildungsnot. Darin besteht sie sicher zu größeren Teilen, und in der Abwesenheit von Kriegsfurcht, Konzerndiktat, Ausbeuterei und Großbesitz besteht sie zuallererst, aber zum einen hält der Mensch derlei Güter, verfügt er nur lange genug über sie, für selbstverständlich und will sich nicht immerfort als dankbar für sie erweisen müssen, und zum anderen fressen bürokratische Gängelung, allwaltender Pädagogismus, verordnete Abstinenz gegenüber Gütern, die anderswo als Normbestandteile des 20.Jahrhunderts gelten, mangelnde Freizügigkeit von Ideen im eigenen Lande und der Trichterbegriff von Agitation an dieser bei uns doch so reichlich vorhandenen Substanz.

Wenn wir nicht möchten, daß uns die, denen wir uns weggenommen haben und die uns wiederhaben wollen, sukzessive wiederkriegen, müssen wir uns mit uns selbst verständigen. Kritisch und selbstkritisch, offen, nicht wehleidig, hart und geduldig. Hellhörig, was auch ohne Mißtrauen geht. Vertrauensvoll, was nicht ohne Wachheit geht. Unter Verzicht auf Pomp und Gepränge und diese elendige Selbstzufriedenheit.

Vor vielen Wochen habt auch Ihr, ähnlich der 'Zeit‘, eine Umfrage gemacht. In einem Satz sollte man sagen, was man als das Beste an der DDR empfinde. Ich weiß meine Antwort auf Eure Frage nach dem Besten der DDR noch genau, zumal ich sie in einem nicht sehr korrekten, dafür aber kaum verkürzbaren Satz geliefert habe. - „Daß es sie gibt“, sagte ich. Fragte man mich jetzt nach dem Schlechtesten an ihr, müßte ich wohl sagen: „Daß es sie so wie derzeit gibt.“ Mit freundlichen Grüßen bei grimmiger Verfassung am 1.Oktober 1989.

Aus: 'Junge Welt‘ vom 9.10.89

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