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Opposition in der sächsischen Provinz

■ In Dresden demonstrieren Tausende, wissen aber kaum, wer das Neue Forum ist

Während sich in West-Berlin schon eine Sympathisantengruppe namens „Neues Forum (West)“ gründet (siehe Seite 1), zeigt ein Besuch in Dresden, wo nur wenige die westlichen Fernseh und Rundfunksender empfangen können, mit welchen Schwierigkeiten die sich organisierende Opposition in der Provinz zu kämpfen hat.

Zwischen Fotos von Nina Hagen, an die Wand gepinnten Strafbefehlen, von der Decke baumelnden Ketten und getrockneten Rosen sitzt Otti, die Kontaktperson des Dresdener Neuen Forums, schlürft Tee und rauft sich die lange nicht mehr rasierte Punkfrisur. „Ich kann nicht mehr, fühle mich völlig überfordert.“ Ständig rufen Leute an. Journalisten oder Interessenten für das Neue Forum. Dabei weiß der 20jährige eigentlich nicht viel. „Aus Berlin erfährst du ja nichts.“ Und er besitzt keinen Fernseher.

Ohnehin können nur die Verkabelten in den Dresdener Neubaugebieten Westprogramme empfangen. „Sonst läuft hier alles über den Deutschlandfunk, und da soll Bärbel Bohley für eine gesunde Deutschlandpolitik mit Wiedervereinigung gesprochen haben. Stimmt das?“ Sicher nicht, aber Otti weiß nicht mehr, „was ich glauben soll“. Und überhaupt, er ist Drechsler, muß Überstunden schieben - wegen alter Geldstrafen „und weil die guten Platten hier 120 Mark im Schnitt kosten“.

Die Kümmerlichkeit

des Nullpunkts

Seit einer Woche demonstrieren jeden Abend Tausende in der Dresdener Innenstadt, rufen nach dem Neuen Forum - und Otti, die offizielle Kontaktperson, trinkt derweil Tee? Auf Dresden trifft jedenfalls zu, was Rolf Henrich, Jurist des Neuen Forums, dessen „ganze Kümmerlichkeit des Nullpunktes“ genannt hat. Zu den Demonstrationen geht Otti nicht, aus Furcht, sofort festgenommen zu werden. So zieht er es auch vor, Samstag abend mit seiner Freundin zu verbringen, während sich der Leninplatz vor dem Hauptbahnhof füllt und die Nationale Volksarmee Posten bezieht.

„Wir bleiben hier, Reformen verlangen wir!“ skandiert die Menge. Der Spruch ist nicht neu, aber in Dresden, republikweit als Tal der Ahnungslosen gehänselt, symbolisiert er eine rasante Entwicklung. Noch am vergangenen Dienstag haben Ausreisewillige das Bild beherrscht, die den DDR-Zug nach Prag und von dort in die Bundesrepublik kapern wollten. Ihr ebenso plötzlicher wie verzweifelter Mut wirkt offenbar als Signal für die zum Bleiben in Sachsen Entschlossenen. Schon am Mittwoch mischen sich Hunderte, wenn nicht Tausende unter die „Ausreiser“ vor dem Bahnhof.

An diesem Abend zertrümmern Steine die Glastüren des Gebäudes. Drinnen liefern sich Demonstranten und Polizei eine Schlacht, in deren Verlauf das Lager der Speisewagengesellschaft Mitropa geplündert wird und einige Leute verletzt werden. Draußen geht ein „Toni“, wie die Lada -PKWs der Volkspolizei heißen, in Flammen auf. Den zweiten kann die Feuerwehr gerade noch retten. Donnerstag dann fährt die Staatsmacht zwei Uraltwasserwerfer auf. Doch unter dem Gejohle der Demonstranten versprüht das eine der Museumsstücke nichts als Luft.

Nach diesem Abend beruhigt sich die explosive Stimmung ein wenig. Einheimische führen es darauf zurück, daß die Ausreisewilligen in die Minderheit geraten. Doch der Bahnhof bleibt magischer Anziehungspunkt. Am Abend des Geburtstages der Republik sammeln sich gegen 18Uhr bereits junge Menschen auf dem Leninplatz und in der Prager Straße. Auffallend viele wahren Abstand zu Polizei und Armee. Nur unmittelbar vor den abgesperrten Zugängen ertönen Sprechchöre für Reformen und Rufe nach „Gorbi“ und dem Neuen Forum.

Anders als in Leipzig oder Berlin fällt aber kein einziges Mal die ausdrückliche Forderung nach Zulassung oder Legalisierung der größten Oppositionsgruppe. Der Grund liegt auf der Hand: Die meisten haben zwar mal den Namen gehört, mehr aber auch nicht. Kontaktmann Otti: „Ich war mal in Berlin, aber hier in Dresden haben wir uns vom Neuen Forum noch nicht getroffen. Ich geb‘ den Leuten weitere Kontaktadressen. Na ja, und dann geht das wohl irgendwie weiter.“ Eine Zustandsbeschreibung, die eine andere Kontaktperson, Pfarrer Hanno Schmidt aus dem nahegelegenen Coswig, bestätigt.

Einer, der am Samstag mit Freunden plötzlich dem Bahnhof den Rücken kehrt, in die Prager Straße läuft und so Tausende in Bewegung setzt, fragt Stunden später Unbekannte: „Sag mal, da soll es so 'ne Gruppe geben, Neues Forum. Ich soll da mitmachen. Was ist das?“ Er geht eben nicht so oft ins Theater, sonst hätte er sicher schon etwas davon gehört. „Keine Bühne, die nicht Flagge gezeigt hätte“, berichtet Pfarrer Schmidt. Nachdem die sächsische Landesbühne, das Staatsschauspielhaus, eine Resolution verfaßt hat, wird auch im „Theater der jungen Generation“ jeden Abend nach der Vorstellung über die Opposition informiert.

Allerdings geht die offene Parteinahme nicht soweit, daß SchauspielerInnen und SängerInnen den Demonstrationszug begrüßen würden, der an diesem Samstag abend auf den Theaterplatz zwischen Oper und Zwinger zusteuert. Viele wundern sich, daß sie so weit gekommen sind. Standen doch schon in der Prager Straße die Polizeiketten. Aber die Menge ist blitzschnell rechts in eine Passage auf die Leningrader Straße eingebogen. Immer wenn sie zwischen 15stöckigen Wohnblöcken läuft, ruft sie den Fensterguckern zu: „Schließt euch an, wir brauchen jeden Mann.“ - Von den vierzig Jahren staatssozialistischer Gleichberechtigung der Frau ist hier jedenfalls nichts zu spüren. Dem gebieterischen Ruf der Massen: „Fahnen rein“, leistet manch AnwohnerIn Folge.

Auf dem Pirnaischen Platz - einer überdimensionalen Kreuzung - kippt die ausgelassene Stimmung abrupt in Wut und Angst um. Von vier Seiten aufmarschierend, trommelt die Nationale Volksarmee mit Schlagstöcken auf ihre Metallschilde. Viele suchen das Weite, die Menschenjagd beginnt.

Auf einem kleinen Rasenstück trotzen Hunderte im Sitzen. „Vater, schlag mich nicht!“ rufen sie, in dem Glauben, die betrieblichen „Kampfgruppen“ kämen ihnen entgegen. Daß es sich um die Armee handelt, mag keiner glauben. Doch es spricht sich rum. „Bruder, geh weg!“ heißt es jetzt. Zwischen den Refrains der Internationale auch: „Bruder, sing mit!“ Ketten der Bereitschaftspolizei sind aufmarschiert, werden von hinten fast überrannt von den Soldaten. Paralysiert und wütend reagieren die Grünen auf die Olivgrünen: „Ich hab‘ die Schnauze voll, die Leute hier sind doch friedlich“, seufzt ein Polizeileutnant, „jetzt ist unser Ansehen ganz kaputt.“ Der Mann ist nicht der einzige, der an diesem Abend seinem Herzen Luft macht.

Aber auch die Soldaten scheinen die verworrenen Einsatzbefehle - über Stunden laufen sie hin und her, kreuz und quer mit dem gebetsmühlenartigen Links-zwo-drei-vier auf den Lippen - nicht mehr zu kapieren. Als wilde Prügler betätigen sich vor allem Stasi-Männer, die wahllos Leute herausgreifen und in Polizeiautos zerren.

Trotz aller Absperrungen, gelungener Abspaltung von kleineren Gruppen und den desorientierten, erfolglosen Aufrufen der Volkspolizei („Bürger, verlassen Sie den Platz, sonst wird geräumt!“) versammelt sich die Menge gegen Mitternacht wieder vor dem Bahnhof. Soldaten wissen nicht, wie sie den Leninplatz von Menschen freihalten sollen, Demonstranten stehen übermüdet, durchnäßt und ratlos herum. Worauf warten sie? Vier Stunden währte ihr erster Marsch, er blieb trotz des Riesenaufgebotes an „Sicherheitskräften“ weitgehend gewaltfrei.

„Wir wollen eine Antwort“

„Eigentlich ist alles gesagt“, lächelt eine junge Frau, „aber wir warten darauf, daß es oben ankommt. Wir wollen eine Antwort.“ Die bleibt auch am Sonntag abend aus, als sich wieder Tausende treffen. Am Vormittag hatte Superintendent Ziemer in der überfüllten Kreuzkirche den Gläubigen einen „kühlen Kopf“ gewünscht und sie gebeten, der „Versuchung zur Gewalt zu widerstehen“.

Von der landesweiten Aufbruchstimmung ebenso überrumpelt wie Partei- und Staatsführung, rotieren die Geistlichen. Während einer Krisensitzung der sächsischen Kirche am vergangenen Freitag verlangte Bischof Hempel von den Leipziger Pfarrern, das montägliche Friedensgebet auszusetzen, bis die Demonstrationen dort aufhörten. Aber die Pfarrer blieben standhaft und ihre Gotteshäuser offen. Gestern fand das Friedensgebet parallel in vier Leipziger Kirchen statt.

Gestern vormittag sollen Bischof Hempel und der Dresdener Superintendent Ziemer mit 20 „Teilnehmern der Demonstration“ zum Dresdener Stadtrat gegangen sein, um über ihr Anliegen zu reden. Ob es stimmt? Ganz unwahrscheinlich ist es nicht, eilt doch dem örtlichen SED-Chef Hans Modrow der Ruf eines heimlichen Reformers voraus. Auf seine vermeintliche Dialogbereitschaft hoffen viele. Bis jetzt schweigt der Mann allerdings, hat nicht wie die Genossen aus dem benachbarten Coswig das Dialogangebot ausgeschlagen (Begründung: „Wir haben bis zum Parteitag im April keine Zeit für ein Gespräch“).

Leipzig ist nicht Dresden

Auch ist in Dresden bisher nicht bekannt geworden, daß die FDJ sich ähnlich plump wie in Leipzig öffentlich eingemischt hätte. In der Messestadt hat die SED-Nachwuchsorganisation öffentlich verbreitet, 80 Unterzeichner des Neuen Forums hätten sich brieflich gegen jeden Dialog ausgesprochen. Das genaue Gegenteil ist bekannt und wurde am Sonntag auf der ersten öffentlichen Veranstaltung in der Michaeliskirche erneut bekräftigt.

Wegen des großen Andrangs wiederholten die Initiatoren die Diskussion am Abend. Fragen über Fragen mußte Michael Arnold (25) beantworten - und kam mit einem Stapel neuer Unterschriften nach Hause. Es sind nicht nur die weit über tausend Namen, die Bände sprechen. Von manchen Kleingruppen mit Mißtrauen beobachtet (siehe taz von gestern), kann das Neue Forum auf wachsende Strukturen verweisen. In dieser Woche nehmen Arbeitsgruppen, nach Wohnbezirken und Themen organisiert, die Arbeit auf.

Ein Redaktionskreis konstituiert sich, der die Herausgabe einer Zeitung vorbereitet. „In zwei bis drei Wochen wollen wir damit rauskommen, das Hauptproblem ist der Papiermangel, wir haben schon ganz Leipzig leergekauft“, sagt Arnold. Wenn sich die einzelnen Arbeitsgruppen gefunden haben, sollen örtliche Sprecher des Neuen Forums gewählt werden. Dies war das Ergebnis des letzten Treffens der dreißig Kontaktpersonen, die einmal wöchentlich die Arbeit zu koordinieren versuchen.

Petra Bornhöft

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