: Die sächsische SED kommt in Bewegung
Neues Forum will Leipziger SED beim Wort nehmen / Bezirkssekretäre hatten 70.000 Demonstranten Dialog angeboten / Erste Gespräche auch in Dresden ■ Von Knud Rasmussen
Berlin (taz/ap) - Nach den Massendemonstrationen der vergangenen Tage in der DDR kommt Bewegung in die sächsische SED. Gesprächsangebote von drei Leipziger Bezirkssekretären wollte das Neue Forum gestern nachmittag wahrnehmen. In Dresden erklärte Oberbürgermeister Berghofer, den am Sonntag begonnenen Dialog mit Demonstranten und Kirche weiterzuführen. Fortgesetzter Starrsinn dagegen in Ost-Berlin: Erich Honecker und der stellvertretende chinesische Ministerpräsident Yao Yilin bekräftigten ihre Wut über das „besonders aggressive Auftreten des imperialistischen Klassengegners mit dem Ziel, die sozialistische Entwicklung umzukehren“. Die beiden Herren versicherten sich laut 'adn‘ „volle Übereinstimmung in den wichtigsten Lebensfragen der Menschheit wie bei der weiteren Entwicklung und Vervollkommnung des Sozialismus“ (siehe Seite 2).
Unterdessen demonstrierten in Ost-Berlin 3.000 und Leipzig bis zu 70.000 Menschen, ungeachtet staatlicher Einschüchterung und kirchlicher Appelle zur Mäßigung. Die Polizei hielt sich zurück. Zunächst kaum wahrgenommen wurden die Aufrufe aus den Lautsprechern des Leipziger Volkssenders. Namhafte Kulturschaffende und drei Bezirkssekretäre der SED forderten „einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land“. Sie gaben ihr Wort, ihre „ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, daß dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit der Regierung geführt wird“. In diversen Interviews erklärten DDR-Geistliche ihre Erleichterung. Auch das lokale Neue Forum reagierte prompt: „Wir werden am Dienstag zur Bezirksleitung gehen und die Genossen beim Wort nehmen“, sagte Erstunterzeichner Michael Arnold gegenüber der taz.
Kritisch äußerte sich Arnold gegenüber Bitten aus der kirchlichen Opposition, eine vierzehntägige Demonstrationspause einzulegen, wie es der Ostberliner Pfarrer Eppelmann vorgeschlagen hatte. Arnold wörtlich: „Vierzig Jahre ist der Bevölkerung gesagt worden, was sie tun und lassen soll. Das reicht. Wir als Neues Forum organisieren keine Demonstration. Jeder demonstriert aus eigener Verantwortung und Entscheidung. Aber wir raten niemandem, da nicht hinzugehen.“
Während in Leipzig das Neue Forum auch ohne offizielle Zulassung (halb-)öffentlich agiert und den Dialog forcieren will, halten sich Dresdener Mitglieder der Gruppe zurück. So hat dort eine „spontan gebildete Gruppe von Demonstranten“ gemeinsam mit Landesbischof Hempel und Superintendent Ziemer am Montag im Rathaus drei Stunden mit Oberbürgermeister Berghofer geredet. Von den Gesprächsinhalten erfuhren rund 10.000 DresdenerInnen am Montag abend in vier restlos überfüllten Kirchen. Die Informationen sind - infolge heftiger Stasi-Aktivitäten und gestörten Telefonverkehrs etwas widersprüchlich. Tatsächlich scheint Berghofer mit einem mehrere Punkte umfassenden Forderungskatalog konfrontiert worden zu sein. Die Gesprächsthemen reichten von der Freilassung inhaftierter Demonstranten über Pressefreiheit, Wahlreformen, Zulassung des Neuen Forums bis hin zur Einführung eines zivilen Wehrdienstes. Zu einigen Punkten lehnte Berghofer jede Stellungnahme ab, weil er als Oberbürgermeister nicht kompetent sei. Agenturangaben zufolge soll er jedoch die Freilassung inhaftierter Demonstranten zugesichert haben. Für nächsten Montag habe Berghofer eine Fortsetzung der Gespräche angekündigt. Kommentar auf Seite 8
Interview, Dokumentation Seite 7
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