'NZ‘ in Wahrheit nur die 'Wahrheit‘?

■ Eine (vorläufige) Rezension der 'Neuen Zeitung‘: Kann es eine sozialistische Zeitung für West-Berlin geben?

Eine sozialistische Zeitung aus Berlin-West, das wäre etwas, das könnte man sich vorstellen. Hüben und drüben fehlt es an einer intelligenten Verteidigung des Sozialismus. Und also fehlt es an einer intelligenten Kritik. Was in der DDR und in Ostmitteleuropa vor sich geht, kann uns von den westlichen Medien nur in den Stereotypen und nach den Modellen von der westlichen Industriegesellschaft erklärt werden. Der Blick auf sie ist heute ohnehin beschränkt.

Eine sozialistische Zeitung könnte von diesem Ort aus viel beschreiben und begreifbar machen, was für die westliche Medienöffentlichkeit unverständlich sein muß. Vor allem: eine solche Zeitung könnte auf eine aufregende Zukunft bauen. Im übrigen könnte der taz, die schon mit dem Linkssein ihre Schwierigkeiten hat, eine sozialistische Konkurrenz nicht schaden.

Wollte man eine intelligente sozialistische Zeitung machen, so müßte eine Reihe von Vokabeln ausgeschlossen werden: Solidarität, Partnerschaft, Dialog - das alles dürfte nicht vorkommen. Ganz zu schweigen vom „kulturvollen Meinungsstreit“. Das alles kommt haufenweise wiederum vor in der 'Neuen Zeitung‘, deren Nullnummer auf Seite eins gleich rechts oben mit der sensationellen Meldung aufmacht: „Im Zusammenhang mit dem 14. Zehlendorfer Metallerfest fand gestern auf Einladung der Zehlendorfer evangelischen Kirche der Arbeitswelt (KDA) ein Pressegespräch statt. Der erste Bevollmächtigte der IG Metall... “ und so fort. Die vertraute 'Wahrheits'sprache der Veranstaltungen, Vertretungen, Stellungnahmen ist wieder da.

Die Leseprobe ist so un-neu und sie mußte mit so armseligen Mitteln gemacht werden, daß eine ernsthafte Rezension ebenso unfair wie unmöglich ist. Wenn die 'NZ‘ acht Wochen alt ist, werden wir noch einmal auf sie zurückkommen. Aber auch wenn die jetzt nur semantisch erneuerte 'Wahrheit‘ für ihren Start fünf mal so viel aufwenden könnte, mit diesem Handicap könnte sie nicht fertig werden: daß eine sozialistische Zeitung für West-Berlin einfach nicht zu machen ist. Sie müßte ihren Stoff zum Leben zuerst in der Stadt finden - und an dem fehlt es durchaus. In der Halbstadt, die in keiner Hinsicht für sich aufkommen kann, die nur mit den Dichtungsmitteln des Wohlfahrtsstaats recht und schlecht konserviert wird, muß alles Politische aus zweiter Hand gelebt werden. Als politische Gesellschaft bleiben die Westberliner zum Parasitismus verurteilt. Für eine stadteigene, sozialistische Öffentlichkeit haben sie nichts aufzubringen. Etwas anderes als der Lehrersozialismus der GEW kann hier weder intellektuell noch organisatorisch gedeihen. Wie dann eine sozialistische Tageszeitung? Wenn die 'NZ‘ zu ein wenig Leben kommen will, muß sie aus ihrer Not, selbst für Partei-Leser allenfalls ein Zweitzeitung zu sein, eine Tugend der Konzentration machen. Also Verzicht auf alle Akutalität aus dem Agenturticker, die auf ihren Seiten doch nur kümmerlich daher kommen kann. Und alle Kraft auf die Beschreibung, die Erklärung, die Diskussion der Gesamtstadt gerichtet, die sich diese Zeitung ja wie keine andere zu eigen machen könnte. In acht Wochen also sprechen wir uns wieder.

Claus Koch, Autor des Kursbuches „Meinungsvielfalt - die Intelligenzblätter der Deutschen„