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Ungarn profiliert sich als Billiglohnland

Beifallsstürme westlicher Unternehmer und Bankiers für Wirtschaftsminister Tamas Beck / „Dräger-Symposion“ über Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen  ■  Aus Malente Ulli Kulke

Es ist schon ungewöhnlich für die internationale Banker -„Community“, daß sich beim Small talk in den Konferenzpausen zwischen den breiten US-amerikanischen Dialekt mit seinen Fachbegriffen wie „debt“, „development“ und „devaluation“ neuerdings auch immer mehr russische Sprachfetzen mischen. Man scheint sich dennoch inzwischen lediglich unterhalten zu können. Auch zu den Ungarn, die immer vorbehaltloser auf die westliche Marktwirtschaft zusteuern, ist der nötige Draht schnell gefunden. Nur mit einer Sprache klappt es offenbar überhaupt nicht: mit dem DDR-Deutsch und seinem unverwechselbaren Flair, wenn es um öffentliche Verlautbarungen geht.

Die renommierte „Dräger-Stiftung“ hatte zu ihrem jährlichen Wirtschaftssymposium ins schleswig-hosteinische Malente geladen. Das Thema Auf dem Weg zu stärkeren Ost-West -Wirtschaftsbeziehungen - Chancen und Herausforderung konnte in diesen bewegten Tagen kaum aktueller gewählt sein, und so trafen sich viele, die Rang und Namen hatten: Bundeswirtschaftsminister Hellmut Haussmann, die Arbeitgeberchefs Tyll Necker und Otto Wolff von Amerongen, Weltbank-Vizepräsident Wilfried Thalwitz, die Ministerpräsidenten Lothar Späth und Björn Engholm und viele andere Größen aus dem Westen.

Was die östliche Wirtschafts-Community angeht, so ist sie gespaltener denn je. Da gab es die reformfreudigen Länder wie Ungarn, Polen und die UdSSR, die sogar ihre zuständigen Minister entsandt hatten. Auf der anderen Seite standen die Hardliner-Länder wie die CSSR, Bulgarien und Rumänien, die aufgrund eigener Sprachlosigkeit lieber darauf verzichteten, überhaupt jemanden zu schicken. Und dann war da noch die DDR, die zwar unter diesen so bockbeinigen Ländern an vorderster Front steht, aber ganz offensichtlich ihr Ohr am Puls der Zeit behalten will. Eine ganze Riege hochtitulierter Wirtschaftswissenschaftler etwa aus dem bekannten Ost-Berliner Institut für Internationale Politik und Wirtschaft (IPW) samt ihrem Chef, Professor Max Schmidt, dazu viele andere Wirtschaftsakademiker aus dem Arbeiter und Bauernstaat waren nach Malente geschickt worden.

In bilateralen Gesprächen am Rande machte sich der eine oder andere zwar schon mal Luft über seine Zufriedenheit über die politischen Vorgänge im eigenen Lager, die der wissenschaftlichen Bewegungsfreiheit ja nur dienlich sein kann („Na ja, es geht los, wir sind alle recht froh“). Wehe allerdings, wenn sie zur offiziellen Ansprache losgelassen wurden. Da brachte dann Max Schmidt die Banker, Bonzen und die anderen beruflichen Beobachter aus dem Westen je nach persönlichem Temperament zu gehörigem Ohrenschlackern oder auch schlicht zum Einschlafen. Der Direktor des genannten Instituts, korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Vorsitzender des Nationalkomitees der politischen Wissenschaften führte ganz im Stile der alten Garde aus: Heute seien „objektive Prozesse wachsender Interdependenzen“ spürbar in der „Überlebens- und Lebensgemeinschaft“, es gehe „um die gemeinsame Sicherheit“, und im übrigen rücke „die Welt immer enger zusammen“. Noch Fragen? Der wirtschaftliche Druck, den mancher von Schmidts Landsleuten verspürt und der dieser Tage zur Massenausreise führt, verleitete Schmidt schließlich - fast - auf die konkretere Ebene: Es gebe in letzter Zeit „gewisse Asymmetrien in den intersystemaren Verhältnissen“. Ansonsten war der Professor zwar um plattesten Optimismus bemüht („Eine wachsende Leistungskraft verstärkt die Möglichkeiten zur Zusammenarbeit“), unterm Strich blieben jedoch nur Forderungen an den Westen übrig, die, bei Lichte betrachtet, die ganze defensive Grundhaltung der DDR-Ökonomie gegenüber dem westlichen Kapitalismus offenbarte: Der Westen möge doch bitte den Osten (oder nur die DDR? - vom sozialistischen „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“, RGW, sprach auf der Tagung keiner mehr) endlich als gleichberechtigten Partner anerkennen.

Doch nicht nur solche verquasteten Verklausulierungen, mehr noch die wahrhaft grenzen- wie schonungslose Offenheit auf der anderen Seite hätte eigentlich in Malente schockieren müssen. Selten wurde der tiefe Bruch in der Ost -Wirtschaftsgemeinschaft vor den Augen der westlichen Öffentlichkeit manifester als in diesem verschlafenen Kurort am Montag abend. Doch unverhohlene Begeisterung machte sich unter den Teilnehmern aus Industrie, Handel, Banken und Medien breit, als Tamas Beck, der ungarische Handelsminister, dann Ivan Ivanov, Wirtschaftsberater der Moskauer Regierung oder auch andere Angehörige beider Länder ihre Ansichten über deren mittelfristige Zukunft offenbarten. Jubelstürme, obwohl es sich um nichts weniger als den Offenbarungseid hinsichtlich des wirtschaftlichen Zustands der beiden RGW-Staaten handelte, von dem -zig Millionen Menschen immer stärker betroffen sein werden.

Begeisterter Beifall für Tamas Beck noch bevor er die ersten Worte gesprochen hatte. Was er dann allerdings zu sagen hatte, unterschied sich nicht nur durch die konkreten Formulierungen von DDR-Oberökonom Schmidt. Da war nicht von „wachsenden Leistungen“ die Rede, und bei der Gelegenheit wurde auch gleich der Anspruch auf gleichberechtigte Voraussetzung in den Wirtschaftskontakten zum Westen über Bord geworfen: „Von den ausländischen Partnern erwarten wir nämlich nicht nur Kapital, sondern auch eine fortschrittliche Technologie, moderne Marketing- und Managementmethoden. Dafür können wir Ihnen unseren Markt, unsere gut ausgebildeten und relativ preiswerten Fachkräfte, gute Gewinnchancen, einen garantierten Kapital- und Gewinntransfer bieten“ und für „die bundesdeutschen Firmen bedeuten die Arbeitskräfte günstiges Fachpersonal ohne die sozialen Spannungen und Probleme der Gastarbeiter“. Hier will sich ein Land als Billiglohnland einklinken und bemüht sich erst gar nicht um den Eindruck gleichberechtigter Voraussetzungen - die freilich auch nicht da sind.

Und was mag der gute Herr Schmidt aus Ost-Berlin gedacht haben, als Minister Beck ständig von „den Deutschen“ sprach, auf die er jetzt setze, bundesdeutsche Firmen ausdrücklich dafür lobte, daß „im vorigen Jahrhundert die kapitalistische Entwicklung in Ungarn mit deutschem Kapital und Technologie begann“? Dies sei auch später nicht nur für die Zeit zwischen beiden Weltkriegen charakteristisch, sondern auch nach dem Zweiten Weltkrieg.

Daß Ungarn während jenes letzten Zeitraums mit einem - hier überhaupt nicht angesprochenen - anderen deutschen Staat in engster Wirtschaftskooperation stand und noch steht, dafür fand Minister Beck keine Worte. Sein Ziel: „Möglichst nah ran an die EG“, und das auch noch möglichst schnell - bis hin zur Vollmitgliedschaft. Dafür gab's dann gehörigen Beifall am Schluß der Rede, und nochmal beim Abgang vom Podium - davon hatte zuvor Bundeswirtschaftsminister Haussmann nur träumen können, als er einsam und unbeachtet die Stufen zu seinem nächsten Termin hinunterging.

Die skeptischen Worte seines sowjetischen Folgeredners, des Moskauer Professors Oleg Bogomolov, konnte Tamas Beck nicht mehr hören. Der Russe war auf seine Weise noch offener: Daß die EG über Ungarn in seiner heutigen Verfassung glücklich sei, könne er sich nicht vorstellen. Seine Diagnose: Die RGW -Volkswirtschaften seien derzeit derart am Boden, daß man schon die Therapie nur mehr sehr vorsichtig ansetzen dürfe: Zur Zeit solle beispielsweise die UdSSR keine Kredite mehr annehmen, weil die westlichen Darlehen heute überhaupt nicht sinnvoll investiert werden können. Was Bogomolov dagegen schnellstens in Angriff genommen sehen möchte ist die Einrichtung spezieller Wirtschaftszonen für westliches Kapital mit Steuervergünstigungen, die vor allem von einem frei sein sollten: der Bürokratie der UdSSR-Verwaltung, die heute das schlimmste Wirtschaftshemmnis der Welt darstelle. Schafft massenhaft Steueroasen im Ostblock, lautete seine Devise.

Nicht nur einige sowjetische Redner, auch der ungarische Handelsminister trug seine Rede in deutscher Sprache vor. Fast wirkte da der trotzige Herr Schmidt aus Ost-Berlin schon wieder sympathisch, als er sich all das über weite Strecken offenbar nur mit dem Kopfhörer anhören konnte, aus dem diesmal nicht nur die Bankersprache Englisch, sondern auch Russisch simultan herauskam.

Diese deutsche Sprache war nicht seine Sprache. Und da war die Versuchung für den Angehörigen der Intelligenz aus dem ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden wohl sehr groß, einmal reinzuhören, wie sich diese frühkapitalistische Euphorie denn in der Sprache Lenins anhörte. siehe auch Kasten oben

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