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Fremdenhaß aus Selbstsucht

■ Arthur Millers „Blick von der Brücke“ in Stuttgart

„Ich verstehe dieses Land nicht“, sagt Marco, der auf der Pritsche eines New Yorker Gefängnisses sitzt. Er kam illegal in das Amerika der 50er Jahre, einer der riesigen Gruppe italienischer „Wirtschaftsflüchtlinge“, die seit Mitte des letzten Jahrhunderts das gelobte Land aufsuchten. Marco soll abgeschoben werden, seine Fassungslosigkeit aber hat einen anderen Grund: Er wurde denunziert und begreift nicht, daß der Denunziant straffrei ausgeht, während seine Existenz zerstört ist. Arthur Miller behandelt in diesem weltberühmten, speziell in Deutschland allerdings selten gespielten Stück ein zur Zeit brisantes Problem: Es geht um Fremdenhaß und darum, wie selbstsüchtige Motive durch scheinbar sachliche Argumente gegen Fremde verschleiert werden.

Um das psychologische Problem der Rationalisierung darzustellen, rückt Miller den Denunzianten in das Zentrum seines Stücks. Der Hafenarbeiters Eddie nimmt Marco (Oswald Fuchs) und dessen Bruder Rodolfo (Walter Sittler) zuerst in seiner Wohnung auf, verrät sie dann aber an die Einwanderungsbehörde. Er gibt Befürchtungen um seine Nichte Catherine (Katja Amberger) vor: Zwischen zwischen ihr und Rudolfo entspinnt sich eine Liebesgeschichte, und er unterstellt dem jungen Italiener strategische Absichten, die auf die merikanische Staatsbürgerschaft zielen. Das wahre Motiv Eddies sind allerdings eigene Absichten auf Catherine. Er kaschiert seine Eifersucht, indem er die „Fremdheit“ Rodolfos denunziert. Der Italiener singt und kann kochen, so etwas ist unüblich für die Männer New Yorks, und folglich kann da etwas nicht stimmen.

Jürgen Bosse hat Millers Geschichte im Milieu der amerikanischen 50er-Jahre belassen. Die Verstrickung Eddies entwickelt sich in einem kargen Zimmer, das nach einer Seite hin offen ist. Hier schiebt sich von hinten der Rumpf eines riesigen Schiffes auf die Bühne: Auf einem Schiff kam Marco nach Amerika, auf einem Schiff wird er wieder abgeschoben. Man kennt diesen Bosse-Stil noch von Mannheim, wo der jetzige Stuttgarter Schauspielchef lange Jahre arbeitete: Er konzentriert die Inszenierung zwar kammerspielartig, öffnet den Raum aber symbolisch durch das Bühnenbild. Und auch sonst ist Bosse sich in Stuttgart treu geblieben. Er inszeniert weiterhin vorsichtig und ohne Schnickschnack, was dem Stück Millers zugutekommt. Denn es ist so gebaut, daß es nur eine unprätentiöse und sachliche Regie verträgt. Daß es dabei allerdings manchmal auch etwas steif auf der Bühne zugeht, müßte nicht sein.

Vielleicht entgingen Bosse einige Feinheiten am Rande, weil er sich zu sehr auf Eddie konzentrierte. Dafür ist ihm etwas anderes gelungen: Die Figur des Denunzianten ist so vielschichtig angelegt, daß das Stück seine Wahrheit entfalten kann. Könnte man Eddie als dumpfen, bösartigen Spießer abtun, wäre die Auseinandersetzung dahin. Michael Rastl spielt überzeugend, wie die liebenswerte Gutmütigkeit Eddies immer mehr durch einen verbohrten Haß verdrängt wird. Man glaubt auch seiner Frau Beatrice (Karin Schroeder), daß sie zu ihm hält, während das Viertel Eddie offen verachtet. Der Denunziant wird schließlich von seinem Opfer erstochen.

Arthur Miller kannte die Geschichte von Eddie aus Erzählungen. Ob Beatrice an Eddies Seite blieb, wußte Miller nicht. In seinen Memoiren „Zeitkurven“ erzählt er, daß ihm bei den Aufführungen des Stücks ein Mann in den vorderen Reihen des Theaters auffiel, der den Zuschauerraum immer tiefbewegt als letzter verließ. Als die Schauspieler ihn ansprachen, sagte er, er habe die Familie gekannt, und alles im Stück sei wahr, bis auf den Schluß. Nicht der Italiener habe den Denunzianten erstochen, sondern die eigene Frau während des Mittagsschlafes.

Jürgen Berger

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