: Sturz und Machterhaltung
Zu Erich Honeckers Rücktritt und zur Nachfolge von Egon Krenz ■ K O M M E N T A R E
Das schnelle Ende eines langwierigen Zerfalls: Honeckers Rücktritt hat zudem die bittere Pointe, daß er präzis die Prophetie der „revanchistischen Westpresse“ erfüllt. 'Bild‘ hatte schon letzte Woche seinen letzten Arbeitstag für Mittwoch angesetzt. Da diese Zeitung auf direkte Informationen ab und an zählen kann, ist diese Tatsache mehr als nur Anekdote. Es zeigt nicht nur, wer den Sturz betrieben hat. Die Art der Inszenierung belegt noch einmal, wessen Kandidat der Nachfolger Egon Krenz vor allem ist: der Kandidat der Stasi. Er ist der Kandidat der Machterhaltung, der Kandidat der Angst im Apparat. Ohne Verbindung zur Geschichte der Arbeiterbewegung, eingebettet allein in den Führungsanspruch der Partei, aufgewachsen im Schoß der Nomenklatura, ein Originalprodukt von vierzig Jahren DDR, jener DDR, die vor wenigen Tagen blind gegen die eigene Bevölkerung anfeierte. Er ist kein Kandidat der Reformen, sondern des „Re-formelns“.
Auch wenn Krenz spät, aber noch rechtzeitig aus dem Betonkurs ausschied, auch wenn er offensichtlich die Realität der hunderttausend in Leipzig erkannte und den Sicherheitsapparat auf einen weichen Kurs umlenkte, ist das noch kein Hinweis, es könnte einen Reformer Krenz geben, kein Hinweis auf Willy Brandts Hoffnung, daß das große „Ummöbeln“ begonnen habe. Vor allem zeigt die Kandidatur von Krenz, daß es um die Machtsicherung geht. Immerhin hat Krenz noch vor Wochen deutlich genug mit der chinesischen Lösung gedroht. Krenz ist auf keinen Fall ein deutscher Tschernenko, dazu ist er nicht krank genug. Und: Seine Prüfung von unten hat schon begonnen.
Flexibilität und bloße Dialogbereitschaft reichen nicht mehr zur Kontrolle der Massen, die ihre Angst verlieren. Die Organisation der Opposition hat die Gruppenbildung übersprungen, ist übergegangen zur Selbstorganisation in vielen Bereichen der Gesellschaft. Die Opposition klagt nicht mehr nur an, sondern entwickelt die Programmatik für eine politische Alternative. Die Macht wandert auf die Straße, und die Straße wartet nicht mehr vor den geschlossenen Türen von Verhandlungszimmern. Wenn immer noch der Dialog mit der SED gefordert wird, dann nicht mehr nur aus Angst vor der Staatssicherheit, sondern aus dem Bewußtsein einer neuen Kraft. Ein Honecker-Nachfolger, der mit diesem Prozeß mithalten will, muß das Machtmonopol der SED möglicherweise sehr schnell in den „Dialog“ einbeziehen, muß sich gegen den Machtapparat wenden, den er vertritt. Oder er muß die Machtmittel gegen die Straße einsetzen, die begonnen hat, Ort, Zeit und Inhalt des Dialogs zu bestimmen. Bisher gibt es nicht einen einzigen Hinweis dafür, daß Krenz zu einer solchen reformatorischen Wende fähig ist. Es gibt nicht einmal eine zukunftsträchtige Formel, ein deutschdemokratisches Analogon zur Perestroika.
Hinzu kommt, daß der Nachfolger Honeckers nicht nur mit dem aufgestauten Reformdruck von unten und aus den eigenen Reihen zu rechnen hat. Er ist auch nicht Moskaus Kandidat. Wenn die Wahrnehmungen von Brandts Moskauer Reise nicht trügen, tritt Krenz sein Amt schon in einer veränderten deutschlandpolitischen Konstellation an. Die Mechanismen der Stabilisierung der SED-Herrschaft durch die Ostpolitik, durch einen langsamen Prozeß, Reformen zu ermöglichen, sind überholt. Die sowjetische Regierung sieht die Notwendigkeit von wirklicher Demokratisierung und ist offenbar zu einer grundsätzlichen Diskussion der deutschen Frage, zu „phantasievollen“ Lösungen bereit. Die SPD wird den Vorrang der offiziellen Beziehung gegenüber Kontakten zur Opposition aufgeben. Auch eine flexibele Politik zur Bewahrungs des Führungsanspruches der Partei hat kaum noch Chancen. Sie könnte nur noch auf einen Verbündeten setzen, auf einen unfreundlichen Winter, der die Leute in die Wohnungen zurücktreibt.
Klaus Hartung
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