: „Jetzt sind stürmische Zeiten auch für die DDR gekommen“
Der DDR-Schriftsteller Stefan Hermlin „zu aktuellen Gegenwartsfragen“ ■ D O K U M E N T A T I O N
Der Morgen: Herr Hermlin, Sie haben einmal gesagt, daß es für Autoren Zeiten gibt, in denen sie sich nicht damit begnügen können, ihre eigentliche Arbeit zu tun. Dies ist denn wohl so eine Zeit. Was bewegt Sie in diesen Wochen?
Stefan Hermlin: Die einfache Tatsache, daß die Bevölkerung der DDR nicht auf veralteten Positionen stehen bleibt, sondern den Willen nach Veränderung sehr deutlich kundtut.
Artikuliertes „neues Denken“?
Ein Begriff wie „neues Denken“, den Gorbatschow in großen aktuellen welthistorischen Zusammenhängen gefunden hat, wird von breiten Massen aufgenommen; die Leute haben das Gefühl: Es muß sich etwas ändern. Und dieses Gefühl entspricht dem realen Ablauf in der Welt von jeher, denn nichts ist so geblieben, wie es gewesen war. Jetzt sind stürmische Zeiten auch für die DDR gekommen.
Wo sehen Sie Ursachen, daß viele junge Menschen bedauerlicherweise unser Land verlassen haben?
Ein Grund scheint mir zu sein, daß man den jungen Menschen nicht das, was zum Werden der DDR geführt hat, überhaupt wirklich plausibel dargestellt hat. Das kann man übrigens auch nur mit außerordentlicher Wahrhaftigkeitsliebe, das heißt, man darf nicht Dinge nach irgendeinem Schema ausklammern. Da ist bei uns vieles in einer, sagen wir, bürokratisierten und chemisch gereinigten Form geschehen, und das hat die Jugend nicht entflammt, sondern hat sie mißtrauisch gemacht, gelangweilt, teilweise abgestoßen.
Dabei waren (und sind) wir immer sehr stolz auf unsere Erziehungspolitik...
Offenbar. Aber - und das ist vielleicht die größte Schwäche unseres Landes und unserer Regierung -: Der Trieb, sich selber zu loben und sich als etwas Hervorragendes darzustellen, scheint unüberwindlich.
Also - eine andere Art der Selbstdarstellung, mit all ihren Facetten, mit den Licht- und Schattenseiten?
Zuerst muß man sagen, daß die DDR und ihre Regierung tatsächlich in den vergangenen vier Jahrzehnten erstaunlichste Leistungen vollbracht haben. Das können selbst die schlimmsten Gegner der DDR nicht leugnen, tun sie eigentlich auch immer weniger. Das heißt, die Errungenschaften der DDR haben sich auch im Bewußtsein von Menschen außerhalb des Landes durchgesetzt. Aber daß alle diese Errungenschaften nicht möglich waren ohne schwere Rückschläge, ohne Irrtümer, ohne Umwege - das tritt nicht ins Bewußtsein besonders unserer jungen Menschen. Die Dinge wurden zu oft nachträglich geglättet. Dabei sind die DDR und ihre Geschichte im Grunde genommen unglaublich interessant, darauf bestehe ich, obwohl ihr gestriger Aspekt so langweilig scheint, aber das liegt an uns selbst, weil wir nicht die ganzen Zusammenhänge wahrheitsgemäß dargestellt haben.
Wie hätte man es anders machen sollen?
Hätten wir den jungen Leuten nahegebracht, daß jede Entwicklung, auch jedes Programm einer Staatsführung, auf große Widerstände stößt, daß das ein ständiger Kampf ist, um Dinge durchzusetzen, auch gegen die eigenen Irrtümer zu kämpfen - das alles ist doch ein Kampfprozeß, der an Spannung gar nicht zu überbieten ist! Aber das alles hat man beiseite geschoben, und jeder, der daran erinnerte, wurde im Grunde genommen als lästig empfunden.
Und die Folgen solcher, sagen wir, Verschönerung?
Daraus hat sich eine Haltung bebildet, die gar nichts anderes hervorbringen konnte als Langeweile, vieleicht sogar Abgestoßensein. Dazu kam, daß die führenden Leute seit längerer Zeit überhaupt nicht mehr ansprechbar waren; eine Stimme, die sich erhob, konnte noch so rührend oder überzeugend sein - es wurde all das mit Schweigen übergangen. Und da konnte man sich nicht wundern, daß schließlich den Leuten die Geduld riß. Ich hoffe und wünsche, daß sich das jetzt ändert.
Was hemmte in der Vergangenheit die volle Entfaltung der Werte des Sozialismus?
Es ist tatsächlich so, daß im Moment der Sozialismus jedem einzelnen große Chancen bietet, sich zu bewähren, eigenschöpferisch tätig zu sein - aber bisher wurde ihm diese Chance entzogen durch eine übermäßige Reglementierung und Bürokratisierung. Ich glaube, daß auf dem Grunde dieses Verhaltens noch immer die Vorstellung liegt, daß die Menschen nicht vertrauenswürdig sind und daß man sie, wie bei kleinen Kindern üblich, bei jedem Schritt überwachen muß.
Wie gewinnen wir wieder das geistige und moralische Klima, in dem das Gefühl von Ohnmacht und Bevormundung durch neue Motivationen, Ziele und Utopien ersetzt wird?
Ich habe schon immer darauf hingewiesen - das kann man in längst vergangenen Jahren nachlesen -, daß die Sozialisten an der Macht einen Grundfehler begangen haben: die Errungenschaften der bürgerlichen Revolution zu vergessen und letzten Endes diese Revolutionen als eine Angelegenheit zu sehen, die sie, die Sozialisten, gar nichts anging, weil es sich ja um eine bourgeoise Angelegenheit handelte. Ich war immer der Auffassung, daß die sozialistische Revolution die Pflicht hat, die in schweren Kämpfen errungenen bürgerlichen Freiheiten - z.B. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - hochzuhalten und zu verteidigen und ihnen eine eigene Freiheit, sozusagen den abschließenden Eckstein, anzufügen - das ist die Freiheit des Menschen, nicht mehr von Menschen ausgebeutet zu werden. Aber leider hat man die anderen Freiheiten, die vor unserer Zeit geschaffen wurden, praktisch - mit wenigen Ausnahmen - liquidiert, nämlich Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit. Es ist sicher ein Teil des neuen Denkens, das Gorbatschow meint und das sich ja auf höchst interessante Weise in der Sowjetunion gestaltet, daß diese Dinge wiedergewonnen und ausgebaut werden. Und diese Aufgabe haben wir auch hier in der DDR.
Ich möchte in diesem Zusammenhang an die Rede unseres Parteivorsitzenden Prof.Dr.Manfred Gerlach zum 100.Geburtstag Ossietzkys erinnern. Darin wird die Sorge geäußert, daß zuweilen Tatbereitschaft und Engagement - nur, weil sie sich nicht an gewohnte Regeln halten - als oppositionelle Versuche zurückgewiesen werden. Wie wächst politisches Vertrauen? Wie lernen wir kämpferische Toleranz im Umgang miteinander?
Das berührt den ganzen Komplex politischer Kultur. Diese Kultur ist seit langem verschüttet. Man hat die Menschen nicht ermutigt, ihre Meinung auszusprechen, man hat überhaupt nicht gelernt, über eine überraschende Meinung, also eine Meinung, die einen überrascht - nachzudenken. Es ist in diesem Lande ja so, daß, wenn einer was sagt, sein Gegenüber, der in einer bestimmten Machtposition festsitzt, schon die Antwort bereit hat. Der hat das alles schon gewußt. Er hat es kommen hören, bevor es ausgesprochen wurde, er findet es schädlich, albern, grotesk - und wischt es beiseite. Nein, man muß andere Meinungen mit Interesse und Ruhe zur Kenntnis nehmen können.
Nun sollten wir es aber schleunigst lernen...
Ich bin da nicht so optimistisch, daß uns das in kurzer Zeit gelingt. Wir in Berlin haben da wohl einen großen Vorteil, aber sobald man rauskommt ins Land, spürt man diesen lastenden Befehlston, dieses Nichtzulassen von irgendeiner Einrede oder Zwischenrede. Da heißt es oft nur: Das wird gemacht! Und das ist das Gegenteil von sozialistischer Atmosphäre.
Aus: 'Der Morgen‘, Zentralorgan der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands, Ausgabe vom 21.10.1089
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