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Gegen den „Ego(n)ismus“

■ Nach der Wahl von Egon Krenz zum Staatschef gingen gestern Tausende in Ost-Berlin auf die Straße

In der Hauptstadt der DDR demonstrierten gestern Tausende gegen die Wahl von Egon Krenz zum neuen Staats- und Parteichef. Im mindestens drei Demonstrationszügen zogen weit über 5.000 Menschen aller Altersstufen nach 17 Uhr durch die Ostberliner Innenstadt. Sie riefen Parolen wie „Freie Wahlen - Volksentscheid“ oder „Jetzt oder nie Demokratie“. Bei einer Sitzblockade vor dem Staatsratsgebäude forderten sie: „Egon allein, das darf nicht sein“, auf einem Transparent war zu lesen: „Kein Ego(n)ismus“. „Das Volk sind wir“, hieß es, und wiederholt wurde die Internationale angestimmt.

Die SED hat unterdessen gegen den Unmut der Bevölkerung eine neue Waffe aufgefahren. Allerorten standen kleinere Gruppen älterer Herren mit SED-Parteiabzeichen im Revers, die die vorbeiziehenden Gruppen in Diskussionen verwickeln, sie von der Erneuerungskraft der SED überzeugen und sie so vom Demonstrieren abzuhalten suchten. Der Alexanderplatz glich über Stunden einer Diskussionsarena. Die große Mehrheit der Protestierenden ließ sich auf keine Diskussion ein.

Besonders schlecht kam der Chef-Agitator und „Schwarze Kanal„-Betreiber Karl-Eduard von Schnitzler weg. Immer wieder riefen die Demonstranten „Schnitzler in den Tagebau“. Außer Pressefreiheit forderten sie „Keine Gewalt“ und den „Stasi in die Produktion“.

Die Volkspolizei hielt sich auffallend zurück und beschränkte sich darauf, den Verkehr zu regeln. Das Staatsratsgebäude und der Palast der Republik wurden von einem Regiment des Staatssicherheitsdienstes bewacht. Eine Kette ziviler Stasi-Beamter, die den Zugang zum Staatsratsgebäude sperren wollte, wurde vom Demonstrationszug beiseite gedrängt.

Peter Müller

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