: Eine Zukunft, die keiner haben will
■ Christoph Heins Ritter der Tafelrunde im Kleinen Haus in Dresden - keine Rezension
Die DDR als Artusreich, das Politbüro als Tafelrunde. Christoph Heins „Komödie“ um den Mythos vom altgewordenen König Artus und seinen zerstrittenen, in Endzeitstimmung verfallenen Rittern am runden Tisch ist in Wirklichkeit eine Fabel über die politische Führung der DDR. In diesen Tagen ist das Stück - es spielt in der Zeit um 500 - von der realen Entwicklung eingeholt worden. Gab es im März bei der Premiere, die kurzfristig in eine „Uraufführung“ umbenannt werden mußte, da die Genehmigung der Kulturbürokratie fehlte, noch politisches Gezerre hinter den Kulissen, Verbotsgerüchte, läßt die Offenheit, mit der in diesen Tagen auf Straßen, in Kirchen und Theatern, aber auch im ZK der Realsozialismus kritisiert wird, die versteckte Kritik Christoph Heins fast museal erscheinen.
Ihr Leben lang haben die edlen Ritter um König Artus sich ein Reich aufgebaut, es gegen alle Feinde verteidigt, den Heiligen Gral gesucht, der das Paradies auf Erden bringen soll, ihn aber nie gefunden. Viele kamen in den Kämpfen um, mancher wurde der Idee geopfert. Übriggeblieben sind düstere verhärmte Gestalten: „Wir haben unser Leben geopfert für eine Zukunft, die keiner haben will.“ Verbissen beharren sie trotzdem auf ihrem Lebenswerk und werden dabei immer weniger: Ritter Gawain, der auszog, um den Gral zu suchen, schreibt Artus in einem Brief, warum er nicht zurückkehren will. Im Schloß der hundert Frauen in Merveille hat er sich niedergelassen, und an den Gral glaubt er auch nicht mehr. Lancelot, der ebenfalls von der vergeblichen Suche zurückgekehrt ist, erzählt der Tafelrunde, daß die Leute nichts mehr vom Gral und der Tafelrunde wissen wollen: Früher hätten sie die Ritter geachtet und um Rat gefragt. Heute lachen sie nur noch, wenn sie einen von uns sehen. „Für das Volk sind die Ritter der Tafelrunde ein Haufen von Narren, Idioten und Verbrechern.“ Der König weiß es, und Keie hält nur resigniert dagegen: „Wir haben ihnen ein Paradies auf Erden geschaffen.“ „Und wolltet sie in dieses Paradies hineinprügeln“, antwortet Mordret, der junge Thronfolger, der mit dem Artusreich nichts zu tun haben will, der nicht weiß, was er im Leben will, aber weiß, was ihn nicht interessiert. Keie will ihn ausrotten, wie alle jungen Leute. „Entweder der Gral oder sie“, ruft er trotzig in die Runde. Orilius, der Betonkopf, der immer wieder die Prinzipien des Artusreichs hochhält, den Frieden im Lande beschwört, erntet nur noch sarkastische Antworten. „Einen Frieden der Krämerseelen, eine Ordnung der Polizeikaserne“, das sei das Ergebnis ihres lebenslangen Kampfes, sagt Parzival. Die Helden von einst sind müde, und Mordret will von ihren Heldentaten nichts mehr wissen, genausowenig wie vom Gral. Er will ihn weder suchen noch finden, nicht einmal geschenkt will er ihn haben. Keie schreibt an seinen Memoiren, zu denen der junge Mordret unter dem Beifall der Zuschauer nur sagen kann: „Wer soll das lesen? Wir kennen eure Heldengesänge bis zum Erbrechen.“ Artus läutet das Ende der Tafelrunde ein, sieht sich gescheitert, auch wenn für ihn die Aufgabe der Gralssuche einer Selbstaufgabe gleichkommt, akzeptiert er, daß sein Sohn ihr Lebenswerk, die gesamte Runde samt Tisch ins Museum schaffen will. „Es schafft Platz. Luft zum Atmen, Vater“, sagt er. Artus darauf: „Ich habe Angst, Mordret. Du wirst viel zerstören.“ Der junge Thronfolger: „Ja, Vater.“ Der Vorhang fällt, das Licht geht an, stehende Ovationen für ein Theaterstück, das immer wieder durch Applaus nach einzelnen Dialogen unterbrochen worden war, und das von nichts anderem handelt, als der realexistierenden SED-Politbürokratie.
Am Ende, nach den letzten Sätzen der „Komödie“ Heins, beginnt ein Stück von der Wirklichkeit des politischen Frühlings im Herbst in der DDR. Die Schauspieler treten aus ihren Rollen heraus, das Plublikum bleibt nicht mehr stummer Zuschauer. Das Theater verwandelt sich in ein Diskussionsforum, nicht über das Stück, sondern über die DDR. In den personellen Veränderungen an der SED-Spitze werde nur der Beginn einer notwendigen umfassenden Reform gesehen, sagen die Akteure von der Bühne herab und laden zur Diskussion ins Foyer. Dort hängen, genau wie in den Kirchen des Landes, die politischen Erklärungen der Oppositionsgruppen, ergänzt um eine der Theaterschaffenden, in der nicht nur Aufklärung, sondern auch personelle Konsequenzen in der Führung wegen der Polizeiübergriffe bei friedlichen Demonstrationen vor zwei Wochen gefordert werden.
Zaghaft beginnt das öffentliche Sprechen. Es muß neu gelernt werden. Die Sprache, die leeren Wörter werden abgeklopft auf Brauchbarkeit, neuen Sinn. Das Beklemmende von 40 Jahren Totalitarismus und autoritärer Herrschaft läßt sich nicht über Nacht abstreifen. Nur mühsam kommt das Gespräch in Gang. Die Angst vor Spitzeln und geheimen Mikrophonen beherrscht den Anfang der Diskussion genauso wie das noch ungläubige Staunen über die neue Zeit und berechtigtes Mißtrauen: „Was, wenn morgen wieder alles vorbei ist?“ Schließlich erlebt in diesen Tagen jeder, daß altbekannte Betonköpfe von einem Tag auf den anderen ihre politische Überzeugung wechseln wie andere das Hemd. „Die sind die Schlimmsten“, sagt einer und erntet kopfnickende Zustimmung von den Versammelten. Niemand traut ihnen.
Was anfangen mit der gewonnenen Offenheit und dem inzwischen auch gewünschten, fast schon verordneten Dialog? Der Sprecher der „Gruppe der 20“, die für die Demonstranten mit dem Oberbürgermeister Dresdens um Reformen verhandelt, ist von den Theaterleuten eingeladen. Er entschuldigt sich für den zum Teil noch sehr allgemeinen Forderungskatalog: „in knapp 14 Tagen haben wir nicht mehr geschafft“, und bittet um Engagement.
Was können wir tun, fragen die Zuschauer. Wenn wir die Wahrheit sagen, den Lügen widersprechen, ist ein Anfang gemacht. Jeder ist da gefragt. Eine Frau vom Lehrerseminar in Freiberg: Unser Forderungskatalog beinhaltet zuallererst „die Entideologisierung der Bildung“ als Vorraussetzung dafür, „die Wahrheit zu sagen und zu verbreiten“. Aus der Erziehung müssen die Feindbilder verschwinden. Wehrlager in den 10. und 12. Klassen dürften zukünftig nicht mehr stattfinden, auch mit dem Alleinvertretungsanspruch der FDJ sei es vorbei. Zwischen den Gesprächsansätzen immer wieder Pausen.
„Sozialistische Demokratie ist ja bürgerliche Demokratie plus noch etwas anderes“, bringt einer stockend wieder das Gespräch in Gang. „Wie lernen wir das eigentlich, Demokratie?“ fragt die alleinstehende Mutter, die genauso alt ist wie die DDR. „Ich habe gar keinen Boden mehr unter den Füßen“, fügt sie hinzu. „Wie lange wollen wir noch demonstrieren, bis sich was ändert?“ Fragen werden gestellt, Forderungen auf ihre Resonanz hin ausprobiert. Der Sprecher der „Gruppe der 20“ wird nach der Rechtssicherheit für Demonstranten in den kommenden Tagen gefragt. Es gebe ein stillschweigendes Übereinkommen, daß die Polizei lediglich den Verkehr regele. „Trotzdem bleiben die Demonstrationen illegal.“ Ein Systemwissenschaftler: Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus könne unser System nicht funktionieren. Es fehlten Kontrollmechanismen, mit denen die Gesellschaft korrigierend ins System eingreifen könne. „Wir brauchen Demonstrationsfreiheit und ein Streikrecht.“ Nach dem 17. Juni 1953 seien schon mal Reformen versprochen, aber nicht gemacht worden.
Ein neues Wahlrecht müsse her, ruft einer dazwischen, und eine andere sagt: „Vielleicht werden wir uns ja irgendwann in verschiedenen Vereinigungen und Parteien wiedertreffen.“ Der Ruf nach einer freien Gewerkschaft wird laut.
Jeder staunt über sich selbst, ist sichtbar verblüfft über den eigenen Mut, etwas unerhörtes ausgesprochen zu haben, wofür er vor Wochen noch mit Repressionen hätte rechnen müssen. Die letzten 14 Tage haben die Menschen nicht nur in diesem Theaterfoyer in eine spürbare Aufbruchstimmung versetzt, trotzdem hat die Atmosphäre etwas Bedrückendes. Eine unaufhaltsame Befreiung von lebenslanger Gängelung und Bevormundung durch die Nomenklatura ist in Gang gekommen, die denen, die sie jetzt erleben, auch Angst macht. Der Schatten vom Platz des Himmlischen Friedens liegt über der Versammlung genauso, wie die Angst vor der unbekannten Zukunft. Wobei zwischen den Theaterleuten und dem Publikum Einverständnis darin bestand, daß es „nicht um Sozialismus ja oder nein geht, sondern darum, ob er besser wird oder schlechter“.
Max Thomas Mehr
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