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Die Linke ist gefordert

■ Gastkolumne von Erich Jesse

Die Veränderungen in der DDR, hier von den meisten nur mit ungläubigem Staunen registriert, werden auch an den Verhältnissen in der westlichen Halbstadt nichts belassen, wie es ehedem war. Das Filibustern über die Möglichkeit, ehemalige DDRler zu Ausländern zu erklären (um sie am Ende als nicht anerkannte Asylbewerber wieder nach Neubrandenburg abzuschieben?), wird von der Dynamik der Ereignisse ebenso überrollt werden wie das SED-Politbüro. Das Schicksal des Pseudo-Reformers wird sein, daß er sich geschwind als Konservativer wiederfindet. Egon Krenz wird es genauso ergehen wie ehedem Karoly Gross von der ungarischen Arbeiterpartei. Gerade noch als Reformer gefeiert, heute schon Alteisen.

Der geneigte Leser wird sich fragen: Was geht mich das an? Nun, das ist nicht genau zu prognostizieren, aber eins ist klar: Der Deckel ist runter vom Schnellkochtopf, und niemand wird dazu in der Lage sein, ihn wieder zu schließen. Noch im Dezember ist zu erwarten, daß nach Erteilung von Pässen, Hunderttausende von DDRlern und Ostberlinern über neu zu errichtende Übergänge in die Stadt strömen werden.

Wieviele dann hier bleiben werden, darüber darf (nur) noch einige Wochen spekuliert werden. Was aber die Reisefreiheit, zum Beispiel in verkehrspolitischer Hinsicht, für Auswirkungen haben wird, werden wir recht bald erleben. Die Grundlagen der Koalition von SPD und AL werden von den zu erwartenden Entwicklungen in Frage gestellt. Als Beispiel sei hier nur die Zahl der Starts und Landungen auf den Flughäfen genannt. Sollten die „Ostler“ auf den Gedanken kommen, nur halb so häufig nach Gomera zu fliegen wie die Westberliner Szene, dann wird die Kapazität von Tegel wie auch von Schönefeld nicht lange ausreichen.

Die Entwicklung zur Metropole wird - dazu braucht man kein Prophet mehr zu sein - mit Siebenmeilenstiefeln vorangehen. EG-Binnenmarkt hin, DDR-Perestroika her: Der Marsch in Richtung auf die Fünf-Millionen-Stadt Berlin (vier sind es ja jetzt schon fast), trifft den Westberliner Senat ebenso unvorbereitet, wie die Herren in Berlin (Ost). Am wenigsten vorbereitet scheint mir aber die Linke, allen voran die AL, zu sein. Eine weitreichende Sprachlosigkeit ist gepaart mit einem „Nicht-zur-Kenntnis-nehmen-Wollen“. Die inzwischen schon geisterhaft anmutende Diskussion, ob 28.000 oder 35.000 Wohnungen in vier Jahren gebaut werden, wird in zwei Jahren wohl nicht mehr verständlich sein.

Für mich steht außer Frage, daß, wenn beispielsweise Flächen außerhalb der Mauern als Schrebergärten verfügbar sind, dann das Tabu der Nichtbebauung von als Wohnbaufläche ausgewiesenen Kleingärten fallen muß. Dies trifft dann vor allem für den weiteren City-Bereich zu, der dann wahrscheinlich nicht mit dem S-Bahnring einzugrenzen sein wird. Eine Debatte darüber, wie sich unsere Stadt unter veränderten Vorzeichen entwickeln wird (und soll), ist aber derzeit nicht in Sicht. Statt dessen steckt die Linke, die ja gerade dazu gefordert wäre, weitgehend den Kopf in den Sand und hofft, der Zuwandererstrom möge an uns vorbei nach Hückeswagen ziehen.

Die Auseinandersetzung muß darum gehen, wo Wohnungen und Gewerbegebäude gebaut werden sollen. Eine Hochhausdebatte wird uns dann wohl früher oder später ereilen. Es muß in der Auseinandersetzung geklärt werden, welche Konzepte zur Bewältigung der gesamtstädtischen Verkehrsströme angestrebt werden sollen. Hier und in vielen anderen Fragen sind jetzt Koalitionspartner gefragt. Es mag zwar sein, daß die rot -grüne Koalition angetreten ist, um die Halbstadt lebenswerter und ökologischer zu gestalten, es ist aber auch sicherlich richtig, daß Rot-Grün wahrscheinlich am wenigsten darauf eingestellt war, nun statt dessen den „Wiedervereinigungssenat“ nebst dazugehörigem Krisenmanagement zu mimen. Trotz alledem sollte man diese Herausforderung nicht den Konservativen überlassen. Ökologischer Stadtumbau und demokratische Erneuerung sollten nicht „Schönwetter-Programme“ sein, die ihre Gültigkeit nur bei Nullwachstum haben.

In diesem Sinne darf gefragt werden, ob es jetzt nicht notwendig ist, ein Zukunftsforum zur weiteren Stadtentwicklung zu organisieren. Die Linke ist gefordert, wenn nicht nur wieder die Verwaltungen ihre (meist) kurzatmigen Konzepte entwickeln sollen.

Eine Politik des weitgehenden Ignorierens sich wandelnder Realitäten führt direkt zu anderen, sicherlich nicht zu bejubelnden Regierungskoalitionen, bei denen die Stadtmitte ihr Gesicht noch ganz anders verändern wird als unter Rot -Grün.

Erich Jesse ist Mitarbeiter im Planungsstab von Bausenator Nagel

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