: Der Fall der Mauer
Wer jetzt nur das Scheitern des Realsozialismus sieht, ist blind ■ K O M M E N T A R E
Man stelle sich vor, ein Traum geht in Erfüllung, und keiner merkt es so richtig: Die Mauer ist gefallen. Seit Freitag nacht kann sich ein DDR-Bürger aus Karl-Marx-Stadt in seinen Trabi setzen und bis nach München fahren. Einen Personalausweis und ausreichend Sprit - mehr braucht er nicht. Seit Freitag nacht ist nicht - wie es im Fernsehen hieß - „die Mauer symbolisch gefallen“. Nein, die Realität ist gefallen, und das Symbol steht in Berlin herum. Seit Freitag nacht wird nur noch Mauer gespielt, mit Beton, Stacheldraht, Flutlicht und Patrouille. Auch wenn die Freizügigkeit an der tschechisch-bayerischen Grenze nur bis zum Inkrafttreten des Reisegesetzes gelten soll, ist kaum noch eine Rückkehr zum alten Grenzregime möglich. Man stelle es sich vor: Die Mauer ist gefallen und keine Politikeransprachen, kein Jubel, kein spontaner Fackelzug auf der Straße des 17.Juni. Und vor allem: Die Millionen von Ost-Berlin erwähnen es nicht einmal. Der Wind der Geschichte, der aus dem Osten kommt, hat eine solche Wucht bekommen, daß die historischen Relikte, die da vorbeiwirbeln, kaum noch Aufmerksamkeit erregen.
Es ist die revolutionäre Bewegung selbst, die der Mauer die Existenz genommen hat. Eine unabhängige DDR-Gesellschaft existiert, denn das Volk hat begonnen, sie in die Hand zu nehmen. Es ist die erstaunlichste, die unvorstellbarste Revolution, die man sich denken kann. Die Läden sind geöffnet, die Eisenbahnen fahren, die Büros sind besetzt, und zur gleichen Zeit, in einer Gleichzeitigkeit vom Dorf bis zur Großstadt, wird die realsozialistische Herrschaft zersetzt, zerbricht die Demokratie von unten den demokratischen Zentralismus.
Keiner der Redner am Sonnabend in Ost-Berlin versuchte zu mobilisieren, Kampfstrategien auszugeben. Es gab keine Wortführer und Führer schon gar nicht, nur Sprecher, die zu sagen versuchten, was alle dachten: Ausdruck einer Vereinigung der Menschen, die hierzulande überhaupt nicht vorstellbar ist. Eine der Forderungen auf dieser Ostberliner Demonstration war: keine Privilegien für Berlin. „Die Straße“ will nicht mehr die Befriedigung von Einzelinteressen, sie will die gesamte Gesellschaft. Wenn Stefan Heym erklärte, jetzt habe man aufrecht gehen gelernt, und nun „müssen wir auch lernen zu regieren“, dann ging er dabei von der jetzigen Lage aus: von der Doppelherrschaft von Partei und „Straße“.
Noch ist das alles nicht unumkehrbar. Die Umwälzung eines einzigen Monats ist so rasend, daß viele in diesem Prozeß erst aufwachen müssen. Und es ist kaum beruhigend zu wissen, daß es jetzt beispielloser Grausamkeit und chinesischer Verhältnisse bedarf, um diese Umwälzung abzufangen. Der Beitrag des „Systems“ an diesem Frühling im Herbst ist offensichtlich. Die Macht ist solange zentralisiert worden, bis hinter der Macht die Gruppe altersschwacher Machtbesitzer erkennbar wurde. Die Kontrolle ist so absolut gewesen, bis sich die Kontrollierten in ihrer Übermacht erkannten.
Wer aber jetzt nur das Scheitern des Realsozialismus sehen will, ist blind. Die Massen der DDR sprechen nicht nur eine neue Sprache, ein neues, noch nie gehörtes Deutsch voller Witz, Phantasie und sanfter Radikalität; es entfalten sich nicht nur Züge einer Basisdemokratie, die nicht eine Spur von Westimport hat. Nein, es ist auch möglich, daß die Massen an einem höheren Grad gesellschaftlicher Entwicklung ansetzen können. Es könnte sein, daß der gescheiterte Politbürokratismus ungeahnte Entfaltungsmöglichkeiten für Selbstorganisation in sich birgt: an der Schule, in der Universität, im Gesundheitswesen, im Betrieb. Sie muß nicht nur ein Spruch sein, die Rede von der „unausgeschöpften Potenz des sozialistischen Eigentums“. Die oppositionellen Massen in der DDR reden jedenfalls so selbstverständlich in gesamtgesellschaftlichen Kategorien, wie wir in Marktbegriffen denken. Der gescheiterte Realsozialismus hat nicht das Nichts hinterlassen. Die Herrschaft muß nicht umgestürzt werden, es genügt, die Herrschaften wegzujagen. Die Menschen sind eben nicht durch Kapitalbesitz voneinander getrennt, sondern nur durch Privilegien und Unterdrückung.
Daß die Mauer fällt und die Konkursmasse DDR durch Wiedervereinigung übernommen werden könnte: Dieser westliche Traum ist zunächst einmal ausgeträumt. Die Massen von Ost -Berlin, von Leipzig, von Dresden, die nicht nur „Das Volk sind wir“ rufen, sondern auch so handeln, haben sich aufgemacht in eine zukünftige Gesellschaft. Daß die Resignierten, die Verbitterten jetzt noch fliehen, nein besser: wegreisen; daß die Opportunisten mitrennen, widerspricht dem nicht. Ex oriente lux.
Deswegen ist die Mauer gefallen, gewissermaßen unter anderem.
Klaus Hartung
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen