: Mordfall Schmücker - das Ende eines V-Mannes
Der längste Prozeß in der Geschichte der bundesdeutschen Justiz wird erneut aufgerollt / Der Mord an dem V-Mann ist Teil der Geschichte der Linken in der BRD Beginn einer taz-Serie über Hintergründe und Verwicklungen des Falles Ulrich Schmücker ■ Von Jerry Cotton
I.
An dem idyllischen, etwas abseits gelegen Waldsee „Krumme Lanke“ im Berliner Vorort Zehlendorf ist es auch in der warmen Jahreszeit nach Sonnenuntergang fast immer menschenleer. Am Abend des 4.Juni 1974 jedoch ist es anders. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit entsteht Bewegung auf einem Parkplatz ganz in der Nähe des Sees, auf dem Spaziergänger gerne ihre Autos parken, wenn sie um die Krumme Lanke laufen wollen.
Mehrere Herren, ausgerüstet mit Funksprechgeräten und Nachtsichtgläsern, verteilen sich unauffällig entlang des Trimm-Dich-Pfades, der parallel zum See verläuft und diesen ganz umrundet. Mit von der Partie: mehrere Vertreter des Kölner Bundesamtes für Verfassungsschutz, der britische Geheimdienst und ein Fotograf des Berliner Fotobüros „Otto und Stark“. Die kühle Frühsommernacht, es sind kaum mehr als zehn Grad Celsius, läßt die Observanten frösteln. Auch die Sicht wird schlechter, da es ab 20 Uhr 30 zu einer partiellen Mondfinsternis kommt, die bis fast 23 Uhr 30 anhält.
Die Herren erhoffen einen dicken Erfolg in der Terrorisfahndung, ohne allerdings definitiv zu wissen, wer ihnen in die Falle laufen soll. Nur über die Identität einer der erwarteten Personen herrscht bei den Beamten Klarheit: Kommen wird auf jeden Fall der 22jährige Student und Gelegenheitsinformant des Verfassungsschutzes, Ulrich Schmücker. Die Briten spekulieren, daß Schmücker sich am dunklen See mit einem Kontaktmann der IRA treffen könnte, der Verfassungsschutz (VS) erwartet „hochkarätige Terroristen der Bewegung 2.Juni“, deren direkte Fährte er mit Hilfe Schmückers aufnehmen zu können hofft. Darauf hat er seit Monaten seine Kräfte konzentriert.
Trotz Mondfinsternis erkennen die Beamten im Wald den ersten Ankömmling sofort: Es ist eine bereits seit Monaten observierte Zielperson aus der Anarchoszene. Sie postiert sich an der Südspitze des Sees, ganz in der Nähe der Fischerhüttenstraße unter einem Schild, das eine stilisierte Tulpe zeigt. Von dort braucht es nur wenige Schritte, um aus dem Licht der Straßenlaternen auf den dunklen Waldweg entlang des Sees zu gelangen.
Nur wenig später, es ist bereits nach 22 Uhr, kommt eine weitere Person hinzu, Ulrich Schmücker. Die beiden tauschen das Kennwort aus: „Hundert Blumen“ - abgeleitet von dem Mao -Zitat: „Laßt hundert Blumen blühen und tausend Ideen miteinander wetteifern.“ Nach einem kurzen Gespräch, in dem Schmücker erklärt wird, er werde jetzt zu dem eigentlichen Treff mit Genossen geführt, spazieren die beiden dann in Richtung nördliche Seespitze durch den Wald davon.
Im Gebüsch wird man unruhig, zumal sich eine „hautnahe“ Observation aufgrund der Örtlichkeit nur schwer bewerkstelligen läßt. Die Observanten müssen eine gehörige Distanz einhalten, wollen sie nicht Gefahr laufen, bemerkt zu werden.
Noch während die Staatsgewalt im Busch verharrt und sich in Erwartung weiterer Kontaktpersonen auf das Beobachten der dahinschlendernden Zwei beschränkt, fällt ein Schuß. Der Student Ulrich Schmücker sinkt am Rand einer Kiefernschonung tödlich getroffen zu Boden.
Nach einem Gutachten des gerichtsmedizinischen Instituts Berlin soll Schmückers Tod um 22 Uhr 25 plus/minus einer Stunde eingetreten sein. Der Schuß aus einer Pistole vom Kaliber neun Millimeter hatte Schmücker aus nächster Nähe in den Kopf getroffen.
Trotz der Überraschung über den völlig unerwarteten Schuß entscheidet die Observantentruppe blitzschnell, nicht einzugreifen, sondern den Täter entkommen zu lassen - aus fahndungstaktischen Erwägungen. Weit, das wissen die Herren der Nacht, kann der Mörder ohnehin nicht kommen. Man ist bestens darüber informiert, wer er ist und wo man ihn finden kann. In dieser Nacht steht für Geheimdienst und Fahndungstrupps entschieden mehr auf dem Plan als die Festnahme einer ohnehin bekannten Person. Ohne Behinderung, und ohne daß ihn sonst jemand gesehen hat, verläßt der Schütze eilig den Tatort.
Die Beamten, auf der Lauer, um „groß zuschlagen“ zu können, konstatieren das Scheitern ihrer Aktion, schlimmer noch, den Tod ihres als Lockvogel eingesetzten Informanten Ulrich Schmücker. Unverrichteter Dinge ziehen sie sich diskret aus dem Wald zurück. Bei einer kurzen Besprechung im nicht weit entfernten Domizil des Berliner Verfassungsschutzes sichert man sich gegenseitiges Stillschweigen zu über das, was in dieser Nacht vor ihren Augen passiert ist. Allen Beteiligten ist klar, daß ihnen hier ein großer Fehler unterlaufen ist, der nicht nur einen Rückschlag in der „Terroristen -Fahndung“, sondern bei Bekanntwerden auch das Ende einiger Beamtenkarrieren bedeuten dürfte. Auf keinen Fall durfte öffentlich werden, daß sich in dieser Nacht unter den Augen der passiv verharrenden Beamten, denen immerhin unterlassene Hilfeleistung vorzuwerfen wäre, ein Mord zugetragen hatte.
Das Kalkül geht auf: Als es zwei Jahre später zum Prozeß kommt, kann die Anwesenheit der Fahnder am Tatort nicht nachgewiesen werden - überzeugende Dementis gibt es allerdings auch nicht. Der Berliner Verfassungsschutzchef Natusch wird vor Gericht lediglich feststellen: „Von meiner Behörde war in dieser Nacht niemand vor Ort.“ Ob statt des Landesamtes etwa das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz oder ein anderer Geheimdienst vor Ort war, läßt nämlich Natusch damit offen.
Noch am Nachmittag des 4.Juni 1974 hat der V-Mann-Führer des Berliner VS, Michael Grünhagen, Kontakt zu Schmücker gehabt. Dabei hat Schmücker, wie bereits bei einem Treffen mit Grünhagen vier Tage zuvor, am 31.Mai, seinem V-Mann Führer mitgeteilt, daß er sich am besagten Abend an der Krummen Lanke mit Genossen, vielleicht von der IRA, vielleicht aber auch mit „gesuchten Genossen“ des 2.Juni treffen wolle. Aber er, Schmücker, habe jetzt Angst um sein Leben, und Grünhagen möge ihm bitte eine Pistole besorgen. Die will ihm Grünhagen allerdings nicht geben, sichert dem verängstigten Schmücker jedoch vollen Schutz zu. Schmücker solle sich keine Sorgen machen, man werde ihn so bewachen, daß überhaupt nichts passieren könne.
20 Minuten nach Mitternacht marschiert von Norden her ein Trupp amerikanischer Soldaten auf dem Rückweg von einer Nachtübung den Trimm-Dich-Pfad am See entlang. Nicht weit von ihrer Sammelstelle entfernt, dem Parkplatz an der südlichen Seespitze, finden sie den sterbenden Schmücker. Die herbeigerufene Polizei kann wenig später nur noch den Tod des Studenten feststellen - es ist dann 0 Uhr 30 des 5.Juni 1974. Die noch in der Nacht eingeleitete Spurensicherung unter Zuhilfenahme riesiger Scheinwerfer bleibt ohne Erfolg. Auch am Tag danach sucht die Polizei den Tatort weiträumig nach Spuren ab, findet aber ebenfalls nichts. Auch die Geschoßhülse tauchte nicht mehr auf, mit der man die Tatwafe hätte bestimmen können.
Am 6.Juni erreicht die 'Frankfurter Rundschau‘ und die 'Deutsche Presseagentur‘ (dpa) ein Kommunique, in dem eine Gruppe „Schwarzer Juni“ die Verantwortung für die Erschießung Schmückers übernimmt. „Das Kommunique über Verrat“ gibt folgende Begründung für den Mord an dem Studenten zum besten: „Genossen, das vor euch liegende Papier ist das Ergebnis der Auseinandersetzung mit dem Verrat. Jede revolutionäre Bewegung muß sich mit der Problematik der Bespitzelung und des Verrats befassen, will sie nicht schon in den Ansätzen ihrer Arbeit erstickt und liquidiert werden.“
Der Vorwurf des „Schwarzen Juni“ an Schmücker: Er habe nach seiner Verhaftung als Bombenbastler im März 1972 Aussagen gegenüber der Polizei gemacht und dabei eine Reihe von Genossen aus der „Stadtguerilla“ schwer belastet.
Aufgrund von Schmückers Aussagen waren in der Tat mehrere Leute verhaftet und zu langen Gefängnisstrafen verurteilt worden.
Zudem habe Schmücker bereits in der Haft mit dem Verfassungsschutz zusammengearbeitet und die Agententätigkeit für den VS auch nach seiner Entlassung in der Linken fortgesetzt. Und weiter: „Wir haben Schmücker hingerichtet. Er war von einem Tribunal der Bewegung 2.Juni wegen seiner Aussagen vor Staatsschutzbehörden in der BRD und West-Berlin zum Tode verurteilt worden.“ An das Kommunique sind sieben Seiten „Vernehmungsprotokolle“ geheftet, in denen Schmücker selbst handschriftlich diese Vorwürfe bestätigt hat. Getan habe er das aber alles nur, so Schmücker in den Protokollen, um aus der „Ohnmacht im Knast herauszukommen“. Zudem habe er vorgehabt, sich den Genossen später zu offenbaren, um dann den Spieß umzudrehen und seinerseits den VS auszuhorchen.
„Diesen seinen Ausführungen“, so der Schlußsatz des „Schwarzen Juni“, „haben wir nichts mehr hinzuzufügen!!! Die revolutionäre Bewegung gab ihre Antwort durch das - Kommando Schwarzer Juni Sieg im Volkskrieg - Die rote Armee aufbauen
-Revolution bis zum Sieg!!!“ Schmücker hat ein Gebot der Stadtguerilla gebrochen: Nämlich im Knast und vor Gericht zu schweigen.
II.
Seine Karierre als Stadtguerillero beginnt der Student aus Bad Neuenahr im Frühjahr 1972. In jener Zeit agiert vor allem in Berlin neben der RAF noch eine weitere Stadtguerilla-Gruppe im Untergrund, die „Bewegung 2.Juni“. Dem Organisationskonzept der „Bewegung“ entsprechend haben sich kurzfristig mehrere kleine Gruppen gebildet, die unter dem Namen „Bewegung 2. Juni“ Bombenanschläge und Überfälle durchführen. Es gibt zu jener Zeit weder eine verbindliche Organisationsstruktur noch eine gemeinsame ideologische Linie, auf die diese unterschiedlichen Gruppierungen festgelegt worden wären.
So entschließt sich denn Anfang 1972 ein halbes Dutzend junger Leute, die sich von der gemeinsamen Knastarbeit in der „Schwarzen Hilfe“ her kennen, statt Knast -Solidaritätsarbeit zu machen, Bomben zu legen. Der Ethnologie-Student Schmücker läßt Studium Studium sein und schließt sich dem Trupp Jung-Anarchisten um die agile „Schwarze Hilfe„-Aktivistin Inge Viet an.
Unmittelbar zuvor hat sich diese Truppe bei anderen Teilen der „Bewegung 2.Juni“ in Mißkredit gebracht. Nach dem „Blutsonntag von Derry“ - am 30.Januar 1972 hatte die britische Polizei in einen Beerdigungszug geschossen und 13 Katholiken getötet - beschließt man im Berliner Untergrund, Vergeltungsaktionen durchzuführen. Eine Gruppe des „2.Juni“ will Brandsätze unter britische Militär- und Polizeifahrzeuge in der Nähe des Theodor-Heuss-Platzes deponieren. Die Gruppe um Inge Viet macht sich daran, einen selbstgebauten Sprengsatz im britischen Yachtclub im Stadteil Gatow unterzubringen. Während die Brandsätze unter den Autos zünden, explodiert der Feuerlöschersprengsatz im Yachtclub nicht - jedenfalls nicht zur vorgesehen Zeit. Als der Bootsbauer Erwin Belitz am nächsten Morgen den umgebauten Feuerlöscher vor der Tür der Werkstatt findet, spannt er das „Ding“ kurzerhand in seinen Schraubstock, um festzustellen, was es damit auf sich hat. Der Mann wird von der Explosion vollständig zerrissen.
Der mißlungene Anschlag und der Tod des Bootsbauers Belitz sorgt für heftige Auseinandersetzungen im Untergrund. Es setzt harsche Kritik an der Chaostruppe um Inge Viet, und ein Teil des „2.Juni“ geht auf Distanz zu den „Schwarze Hilfe„-Guerilleros.
Als Schmücker den Anschluß an diese Gruppe findet, liegt der tödliche Anschlag auf den Yachtclub bereits zwei Monate zurück. Mit großem Eifer widmet sich der Student fortan dem „bewaffneten Kampf“. Am 11. April 1972, die Amerikaner nehmen die Bombenangriffe auf Nordvietnam wieder auf, wird Schmücker seine erste Aktion durchführen. Die Gruppe hat nämlich beschlossen, die Amis in Berlin mit Hilfe selbstgebauter Spreng- und Feuerbomben zu attackieren.
Gruppenmitglied Harald Sommerfeld bastelt noch am selben Tag aus einem eisernen Kochtopf eine Bombe, während Schmücker einen benzingefüllten Kanister zu einer Brandbombe umfunktioniert. Und noch in der Nacht des 11.April explodiert Schmückers Brandsatz unter dem Wagen eines US -Soldaten, während Sommerfelds Kochtopf-Bombe auf dem Fenstersims des US- Offiziersclub „Harnack House“ nicht hochgeht. Aus Sorge, daß wieder ähnliches wie im britischen Yachtclub passieren könnte, alarmieren die Bombenbauer diesmal anderntags die Polizei. Aus sicherer Entfernung beobachtet die Gruppe, wie Spezialisten der Polizei den Kochtopf entschärfen.
(Fortsetzung folgt:
Samstag, 11.November)
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