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Welche Deutschländer in Europa?

■ Der französische Publizist und Wissenschaftler schrieb am Tag vor der Öffnung der Mauer über die deutsche Frage

Alfred Grosser

Paradox: Just in dem Moment, wo die Länder des sowjetischen Einflußbereichs sich immer mehr den westlichen Werten annähern, werden diejenigen, die immer schon eine Annäherung Westdeutschlands an den Osten fürchteten, ängstlicher und pessimistischer denn je.

Das Phänomen gibt es allerdings schon länger. Vor 36 Jahren, nach dem ersten Wahlsieg des Europäers Konrad Adenauer, konnte man an dieser Stelle unter dem Titel „Was hätten sie tun sollen?“ ein Kommunique der gaullistischen Parlamentsfraktion lesen: „Die kollektive Willensbekundung der deutschen Wähler - die durch nationale Elemente gekennzeichnet ist - rechtfertigt die Skepsis gegen jede politische Lösung, die Frankreich und seine Kräfte mit einem Deutschland verbindet, über dessen politische Beschaffenheit sich noch nichts sagen läßt.“

Von 1953 bis heute taucht dieselbe Idee immer wieder auf: Zuerst ist da die Angst, und dann sucht man die Gründe, sie zu rechtfertigen. Und tatsächlich gab es zu jedem Zeitpunkt der bundesdeutschen Entwicklung Schattenzonen, die aus der Sicht der sich bildenden Europäischen Gemeinschaft das Positive oft genug verstellten. Da war und ist die Versuchung des wirtschaftlichen Stolzes, der mit dem Gemeinschaftsgeist und dem politischen Dünkel Frankreichs in Konflikt gerät. Und da war - ist aber nicht mehr - eine Fehlinterpretation der Ostpolitik.

Die Ostpolitik schloß zwei große Opfer ein - die Anerkennung der polnischen Westgrenze und damit den Verlust eines Fünftels des Territoriums von vor 1937 und die Anerkennung des anderen deutschen Staates, und damit - für eine unabsehbare Zeit - den Verzicht auf die nationale Einheit; dies alles, um von den Führern der DDR eine größere Durchlässigkeit der Grenzen zu erhalten. Als dieses Ziel erreicht war (Millionen Besuche, Hunderttausende Telefonleitungen, freier Zugang zum Westfernsehen), fingen manche politische Kräfte vor allem unter den Sozialisten und Protestanten an, die Unterdrücker ihrer Brüder als Brüder zu behandeln und betrachteten es als ideologische Forderung, den Graben zwischen Freiheit und Unfreiheit um des „gemeinsamen Hauses“ willen auszuklammern.

Heute haben sich diese Männer unter dem Einfluß der Befreiungsbestrebungen im Osten und besonders in der DDR auf den Rückzug begeben. Am 17. Juni dieses Jahres ist Erhard Eppler einer von denen, die im Bundestag die Gedenkrede zum Aufstand von 1953 halten und die an die gemeinsame Verwurzelung in den westlichen Werten erinnern. Auch Egon Bahr redet eine andere Sprache, und die protestantischen Bewegungen unterstützen die evangelische Kirche der DDR, deren Demokratiebegehren endlich öffentlich geworden ist. Eher Freiheit als Nation

Sollte man sich nicht, bevor man wieder mit Befürchtungen anfängt, erst mal über den riesigen Sieg des Westens freuen: Auf seine Werte berufen sich die Völker Osteuropas und stellen damit die Nicht-Representativität der einst „Volksdemokratie“ genannten Systeme bloß. Natürlich sind Rückschritt und Repressionen nicht ausgeschlossen. Natürlich stellt sich auch die „deutsche Frage“ neu.

1949 haben die Westdeutschen eine tragische Wahl getroffen: Sie haben die Freiheit der Nation vorgezogen. Seit vierzig Jahren genießen sie diese Freiheit, aber sie sollten nicht allzu stolz darauf sein. Die Westdeutschen wie die Franzosen und die anderen Westeuropäer haben den Preis der Freiheit von den Osteuropäern entrichten lassen. Im Fall unserer deutschen Partner wurde der Preis von Angehörigen der gleichen Nation bezahlt. Es bedeutet zu Recht eine besondere Genugtuung, gerade sie zu mehr Freiheiten kommen und sich gar der Selbstbestimmung annähern zu sehen.

Der Prozeß steht kaum an seinem Anfang. Niemand in Deutschland - außer der extremen Rechten - will diese Freiheit mit der Forderung nach Wiedervereinigung heute zerstören - eine Forderung, der die heutige Sowjetunion, und die morgige wohl auch nicht, ohne vorherigen Zusammenbruch kaum nachgeben würde. Heute muß man das Wünsch- und Erreichbare ins Auge fassen, eine DDR, die weniger unterdrückerisch wäre und deren Bevölkerung einer kompletten Übernahme des westlichen Gesellschaftsmodells ganz bestimmt nicht zustimmen würde.

Es wäre absurd, wenn man für den Entwurf von Zukunftsmodellen, von wenig begründeten Hypothesen ausginge. Fran?ois Mitterrand hat in seiner bemerkenswerten Straßburger Rede den Hauptirrtum benannt. „Muß die strukturelle Auflösung der östlichen Systeme unbedingt von einem Zerfall auch der westlichen Strukturen begleitet sein? Kann nicht auch der gegenteilige Effekt eintreten?“ In anderen Worten: Die Stärkung der Europäischen Gemeinschaft wird ihre Anziehung auf die osteuropäischen Länder erhöhen, ohne deren Existenz - auch nicht die der DDR - in Frage zu stellen.

Man hat lange Zeit vom Risko der „Finnlandisierung“ Westeuropas geredet. Gemeint war damit meistens Westdeutschland (fast stets unter Beleidigung des freien Finnland). Warum sollte man heute vor der „Finnlandisierung“ Angst haben, wenn sich immer mehr osteuropäische Länder zum Westen hin entwickeln und weniger kommunistisch werden. Das gilt auch für die DDR. 1919 forderten alle deutschen und österreichischen Parteien die Eingliederung Österreichs ins Reich; wer würde heute noch in Wien oder Bonn Österreich zu einem Land der Bundesrepublik machen wollen?

Dafür pocht Österreich heute an die Pforten der Europäischen Gemeinschaft. Wenn die Entwicklung im Osten so günstig bleibt, so heißt das, daß sich das Problem der DDR in zehn oder zwanzig Jahren einer Europäischen Gemeinschaft stellen wird, die bis dahin wirtschaftlich und gesellschaftlich enger zusammengewachsen ist.

Man kann auch düsterere Hypothesen aufstellen. Aber eins gilt nicht: Man sollte sich nicht fürchten, nur weil sich die Dinge in eine Richtung bewegen, die wir lange angeblich gewünscht haben, nur weil die Situation nicht mehr festgefahren ist, kurz: um es noch einmal in den Worten Mitterrands zu sagen, nur weil die Lage kompliziert ist und Fantasie und guten Willen verlangt. Als die Europäische Gemeinschaft Griechenland, Portugal und Spanien aufnahm, damit sie ihre noch sehr jungen demokratischen Strukturen entwickeln konnten, hat sie gezeigt, daß sie nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft ist. Nun muß sie zeigen, daß ihre Stärkung die Freiräume in Polen, der DDR, Ungarn und selbst der Sowjetunion vergrößern kann.

Aus 'Le Monde‘ vom 10.11. 1989

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