: Jenseits von Mauer und Wiedervereinigung
Thesen zu einer neuen grünen Deutschlandpolitik / Gekürzter Beitrag für den Strategie-Kongreß der Grünen am Wochende in Saarbrücken ■ Joschka Fischer
Herbst 1989 in der Deutschen Demokratischen Republik. Geschichte, Revolution, Umsturz, die Entstehung einer neuen Zeit, einer neuen Ordnung, entweder vorwärts zu einem neuen Europa oder rückwärts zum alten Deutschland. Gleichwie, die Geschichte ist in unseren bundesrepublikanischen Alltag eingebrochen. Von außen kommend vom Osten die Marsaillaise im Zweitakt tuckernd, blaunebelnd im Trabi. Wir sind Zeitgenossen der zweiten Deutschen Novemberrevolution, der Novemberrevolution des Jahres 1989 in der Deutschen Demokratischen Republik. Diese Revolution wurde und wird von Millionen von Menschen völlig gewaltfrei ins Werk gesetzt, und sie entwickelt sich in atemberaubender Geschwindigkeit hin zu einer durch freie und geheime Wahlen legitimierten parlamentarischen Demokratie und zu einem auf den Menschenrechten gründenden Rechtsstaat. Die Mauer steht zwar noch, aber sie hält nicht mehr: niemanden und nichts. „Wir sind das Volk.“ heißt die Inschrift auf dem Grabstein der Diktatur der SED. „Wir sind das Volk“, so lautet der erste Satz der Gründungserklärung der zweiten deutschen Nachkriegsdemokratie, der Deutschen Demokratischen Republik, erkämpft von Zehntausenden auf der Flucht in den Westen, erkämpft von den Millionen auf den Straßen in Leipzig, Dresden, Ost-Berlin und überall sonst in der DDR. Zum ersten Mal auch seit der blutigen Niederschlagung der demokratischen Rvolution von 1848 hat der Begriff „Volk“ in der politischen Sprache in Deutschland wieder einen guten, einen aufrechten Klang, klingt nach Demokratie, nach Freiheit und Menschenrechten und nicht nach Nationalismus, Obrigkeitsstaat, Gleichschritt und Krieg.
„Wir sind das Volk“, riefen die Menschen in der DDR. Und allein vor diesem Volk und vor Michail Gorbatschow (und vor sonst niemandem!) ging der Stalinismus in die Knie. Alle Staatsgewalt ging plötzlich zum Volke hin, und dann begann das Volk zu tanzen, nachts, auf der Mauer in Berlin. Dort, wo Biermanns sternhagelvoller Fran?ois Villon im Tagtraum des Poeten die Vopos schreckte und den Stacheldraht erklingen ließ, dort tanzte jetzt das Volk: auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor. Kein Politiker, kein kluger Analytiker, kein Wissenschaftler, kein Poet und kein Erleuchteter hatte diesen 9. November, hatte diese „stille“ und doch auch so lärmende, tanzende, abgasgeschwängerte zweite deutsche Novemberrevolution vorhergesehen. Die Phantasie reichte dazu einfach nicht aus, wohl aber die phantastische Kraft der Wirklichkeit. Die demokratische Revolution in der DDR definiert auch hierzulande die Deutschlandpolitik völlig neu. Die Parteien, Minister und Bundeskanzler hierzulande rühmen sich jetzt ihrer historischen Wichtigkeit an dieser gewaltfreien Revolution, aber es gibt lediglich zwei Helden dieses deutschen Novembers: das Volk der DDR, die Weggeher und Dableiber, und die sowjetischen Reformer um Gorbatschow, ohne die dieser historische Umbruch in Osteuropa niemals möglich gewesen wäre. Wenn Gorbatschow durchhält, wenn er nicht zum Deng der Sowjetunion wird oder von einem solchen abgelöst wird, ja dann wird ihn eines Tages ein polnischer Papst auf deutschen Antrag hin heilig sprechen...
Noch ist völlig ungewiß, wie und wo diese gewaltfreie Revolution der Freiheit und Demoktratie in der DDR enden wird: Erleben wir gegenwärtig die erste erfolgreiche deutsche Revolution der Neuzeit, die Durchsetzung von Demokratie, Recht und Sozialstaat von unten in der DDR? Eine ostdeutsche Republik mit eigener Identität und eigenem Weg? Entsteht heute gar bereits das Fundament für ein europäisches Haus jenseits der Militärblöcke und Nationalstaaten, ohne Diktaturen, militärische Hochrüstung und Armeen in der Mitte Europas? Oder werden wir die Zeugen eines katastrophalen Zusammenbruchs der DDR sein und ihrer damit einhergenden Auflösung als eigenständigem Staatswesen und überlebensfähiger Volkswirtschaft mit unabsehbaren Folgen für Frieden und Stabilität in Europa? Oder wird es am Ende gar noch zu einer blutigen Konterrevolution des stalinistischen Machtapparats und zu einem Ende der demokratischen Reformprozesse in Osteuropa und der Sowjetunion kommen, verbunden mit einer neuen Phase von Unterdrückung, internationaler Konfrontation und militärischer Hochrüstung?
Diese Fragen wird gegenwärtig niemand schlüssig und mit einiger Aussicht auf prognostischen Erfolg zu beantworten vermögen, denn die Dinge überschlagen sich in rasender Geschwindigkeit, täglich, ja manchmal stündlich. Egal, wie die zweite deutsche Novemberrevolution in der DDR ausgehen wird, die Bundesrepublik und ganz Europa werden bis in die Grundfesten hinein dadurch erschüttert und verändert werden. Wer vermag heute schon zu prophezeien, wie die Bundesrepublik und wie Europa im Frühjahr 1990 tatsächlich aussehen werden? Was wird dann noch gelten von den ehernen Säulen der westdeutschen Nachkriegsdemokratie? Von Wiedervereinigung, Zweistaatlichkeit, europäischer Integration, vom Dogma der einen deutschen Staatsbürgerschaft, von der Lehre vom Deutschen Reich und seinem Fortbestand in (ja welchen?) Grenzen? Von Westbindung, Nato, Warschauer Pakt, EG? Von Kapitalismus, Sozialismus, Nationalismus? Eherne politische Positionen der vergangenen vierzig Jahre wurden fast über Nacht hinweggefegt, entwertet, sinnlos. Die deutschlandpolitischen Heiligtümer von links bis rechts besitzen nicht einmal mehr Flohmarktqualität, und die politischen Akteure verschanzen sich wider bessere Erkenntnis weiter dahinter, nur um ihre völlige Rat- und Hilflosigkeit angesichts dieser ungestümen revolutionären Veränderung zu verbergen. II
Die deutsche Frage, wie sie aus der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 entstanden ist, war im wesentlichen ein Ergebnis der deutschen und europäischen Teilung unter den Siegermächten. Der deutsche Nationalstaat Bismarcks, das Deutsche Reich, hatte zweimal die Welt mit Kriegen überzogen, die unsägliches Leid mit sich brachten. Deutschland war schließlich seit dem 30. Januar 1933 einem paranoiden Massenmörder in die Verbrechen des Holocaust von Auschwitz gefolgt, in den Wahn eines auf Versklavung und Ausrottung unserer Nachbarvölker zielenden Rassenkrieges in Osteuropa, in die völlige moralische und dann auch staatliche Selbstvernichtung. Die nach dem 8. Mai 1945 in Europa errichtete Nachkriegsordnung hat ein wesentliches Ziel bis auf den heutigen Tag: die Fieberschauer eines gewalttätigen deutschen Nationalismus sollten nie wieder Europa ängstigen, und Deutschland sollte deshalb nie wieder zu einer kriegführenden europäischen Großmacht werden können.
Dieses auf den Millionen Opfern des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust unverrückbar gründende Fundament der gegenwärtigen europäischen Nachkriegsordnung gilt allen unseren Nachbarn und „Freunden“ bis auf den heutigen Tag als unverzichtbar. Und man täusche sich nicht: Fundamente pflegt man nicht zu verrücken. Alles Nachdenken hierzulande über die Folgen der zweiten deutschen Novemberrevolution und einer neuen Ordnung in Deutschland und Europa wird daher von der unveränderten Gültigkeit dieses gegen Deutschland gerichteten europäischen Fundaments ausgehen müssen. Jede von den Deutschen betriebene Lösung der „deutschen Frage“ und jede neue europäische Ordnung wird nur dann Verbesserungen bringen können, wenn sie diese Grundannahme berücksichtigt. Alles andere führt bestenfalls in die Erfolglosigkeit und schlimmstenfalls in unverantwortliche politische Abenteuer.
In der sogenannten „deutschen Frage“ verschränkt sich von Anbeginn an ein ganzes Bündel an offenen Fragen der deutschen und europäischen Politik: die Sicherung Europas vor den Deutschen und dem deutschen Nationalismus, die Teilung Deutschlands und Europas, die innerdeutsche Grenze als „Hauptfront“ des kalten Krieges und der beiden mächtigsten Militäblöcke der Geschichte und als Systemgrenze zwischen Kapitalismus und Realsozialismus, zwischen Marktwirtschaft und Planwirtschaft, zwischen parlamentarischer Demokratie und stalinistischer Parteidiktatur. Zerlegt man diese „deutsche Frage“ in ihre einzelnen offenen Fragen, so handelt es sich bei ihr im wesentlichen um die Staatsfrage (Wiedervereinigung, Zweistaatlichkeit oder Aufgehen der beiden Deutschländer in einem europäischen Bundesstaat), um die Freiheitsfrage (Menschenrechte, Demokratie, Selbstbestimmung, Rechtsstaat versus stalinistischer Einparteienherrschaft), um die Friedensfrage (Blockkonfrontation, Hochrüstung und militärische Bündnisse im geteilten Deutschland und Europa) und um die Frage der Wirtschaftssysteme (Planwirtschaft versus Marktwirtschaft mit einem gewaltigen Produktivitäts und Reichtumsgefälle zwischen den beiden Wirtschaftssystemen).
Die Deutschlandpolitik war in den vergangenen vierzig Jahren der Bundesrepublik von rechts bis links stets eine höchst ambivalente, ideologisch stark aufgeladene und daher oft unehrliche Veranstaltung. In den fünfziger Jahren betrieb die CDU faktisch eine Politik der Spaltung namens Westintegration der Bundesrepublik bei Beibehaltung einer unehrlichen Wiedervereinigungsrhetorik. Die Formel von damals hieß: „Freiheit vor Einheit.“ Die demokratische Linke in Gestalt der SPD bekämpfte diese Politik der staatlichen Zweiteilung Deutschlands in den fünfziger Jahren. Nachdem die SPD aber den Erfolg der Adenauerschen Westintegration gegen Ende des Jahrzehnts, inklusive Wiederbewaffnung und Nato-Beitritt anerkennen mußte, zog sie aus dieser von Adenauer und der CDU betriebene Politik der Zweistaatlichkeit jene Konsequenzen auch gegenüber der Sowjetunion, der DDR und Osteuropa, die sich die CDU/CSU als Gefangene ihrer eigenen Wiedervereinigungsrhetorik und der Vertriebenenverbände nicht zu ziehen wagte: Mit der sozialliberalen Ostpolitik unter Brandt/Scheel kam es zu einer Reihe von Verträgen, die die Grenzen in Europa seitens der Bundesrepublik als endgültig und die DDR als eigenen Staat anerkannten. Durch diese, innenpolitisch hart umkämpften, Ostverträge sollte nicht nur die außenpolitische Handlungsfreiheit der BRD erweitert, sondern zugleich auch die militärische Konfrontation zwischen den Blöcken entspannt und durch die Anerkennung des Status quo die Reformmöglichkeiten in Osteuropa und vor allem in der DDR verbessert werden.
Als die Grünen Ende der siebziger Jahre das politische Licht der Bundesrepublik erblickten, war die Zeit der Entspannung zu Ende gegangen. Ein neuer „eiskalter“ Krieg schien heraufzuziehen: Der Einmarsch der UdSSR in Afghanistan, die atomare und konventionelle Hochrüstung der UdSSR während des gesamten Jahrzehnts, die Wahl Ronald Reagans zum Präsidenten der USA, SDI und die Kontroverse um die sogenannte „Nachrüstung“ der Nato mit atomaren Mittelstreckenraketen, stationiert vor allem in der Bundesrepublik und zielend auf die militärischen Schaltzentren der UdSSR. Atomare Kriegsführungsszenarien der Generalstäbe in Washington und Moskau, sogenannte thermonukleare „chirurgische Eingriffe“ und agressive Ideologismen vom „Reich des Bösen“ bestimmten die politische Debatte.
Auch die Grünen hatten von Anbeginn an ihre deutschland und ostpolitschen Ambivalenzen. In der eigentlichen „deutschen Frage“ war und ist die grüne Politik von einem extremen Widerspruch gekennzeichnet: Ausgehend von der strukturellen Abrüstungs- und Friedensunfägikeit der Nato kam man zu der Forderung nach dem einseitigen Nato-Austritt der Bundesrepublik Deutschland. Abgesehen davon, daß diese Forderung hauptsächlich zur innenpolitischen Abgrenzung und zur innerparteilichen Identitätsstiftung diente und politisch niemals in ein handlungsfähiges Konzept umgesetzt wurde, so war der einseitige Nato-Austritt, praktisch zu Ende gedacht, nichts Geringeres als eine „linke“ Revision der europäischen Nachkriegsordnung, und mußte auf einen deutschen Sonderweg hinauslaufen. (Die „rechte“ Version hieß „Wiedervereinigung“ und meinte immer den Anschluß der DDR an den Westen und damit eine Ostverlagerung der Blockgrenze zwischen Nato und Warschauer Pakt.) Keine deutsche Revisionspolitik der territorialen oder machtpolitischen Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges aber, gleich ob von rechts oder links betrieben, wird in Europa jemals friedensfördernd sein und deshalb in Ost und West niemals zustimmungsfähig werden, und schon gar nicht wird aus solch einseitigen Revisionsversuchen eine neue europäische Friedensordnung entstehen können.
In der Staats- oder Wiedervereinigungsfrage vertraten die Grünen überwiegend eine radikalisierte Form des Wandels durch Annäherung, indem sie die endgültige Anerkennung der deutschen Zweistaatlichkeit zur Grundlage ihrer Deutschlandpolitik machten. Dies beinhaltete die Änderung der Präambel des Grundgesetzes und die volle Anerkennung einer Staatsbürgerschaft der DDR. Mit diesem Schritt sollten vor allem drei Ziele erreicht werden: a) Einem deutschen Nationalismus sollte unwiderruflich die machtpolitische Grundlage entzogen und damit die Grenzfragen im Osten definitiv geschlossen werden. Die Bundesrepublik Deutschland hat keine gemeinsame Grenze mit Polen. b) Damit sollte der zentrale Seinsgrund für die Militärblöcke und ihre Präsenz in Deutschland durch den freiwilligen Verzicht der Westdeutschen auf Wiedervereinigung positiv beseitigt und so die außenpolitische Option der Blockauflösung und einer auf Gewaltfreiheit beruhenden neuen europäischen Friedensordnung befördert werden. c) Es sollte der innenpolitische Reformspielraum der DDR bis hin zur Grenzöffnung durch die völlige außenpolitische Anerkennung des ostdeutschen Staates erweitert werden. Die demokratische Revolution in der DDR hat nun diese Position binnen weniger Wochen ebenso radikal entwertet, wie die deutschlandpolitischen Grundsätze der anderen westdeutschen Parteien auch.
Bezieht man dann noch die Grundtendenz der grünen Europapolitik und ihr überwiegend negatives Verhältnis zur EG und zu Frankreich mit ein, so wird das Bild engültig verworren, denn hier dominiert wieder ein Rückzug auf den nationalen Handlungsrahmen der Bundesrepublik Deutschland, das heißt eine ziemlich nationale Borniertheit, die wiederum zur innenpolitischen Orientierung der Grünen hin zu einer multikulturellen Gesellschaft und zu ihrer Flüchtlingspolitik der offenen Grenzen paßt, wie die Faust aufs Auge, zumindest, wenn man von einem Minimum an argumentativer Schlüssigkeit selbst in Parteiprogrammen ausgeht. Gewiß, das alles zeigt noch die Partei im Werden, den inhaltlich widersprüchlichen Übergang einer Sammlungsbewegung hin zu einer handlungsfähigen Programmpartei – und zehn Jahre sind nicht allzuviel im Leben einer völlig neuen Partei –, aber die Grünen werden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit im kommenden Jahr mit der Tatsache konfrontiert sehen, daß der Einbruch der Geschichte in die Schrebergärtnerei der Bonner Parteien die gewohnt gemächlichen Lernprozesse überrollen wird. III
Bei aller neugrünen Leidenschaft für nationale Tabubrüche und gerade auch angesichts einer völlig unerwarteten, von nationalen Gefühlswallungen begleiteten demokratischen Revolution in der DDR müssen die unverrückbaren Grundsätze einer politischen Neubestimmung historisch und moralisch unzweideutig klargestellt werden: Wir leben und machen Politik als Linke in jenem Land, das die Gaskammern und Krematorien von Auschwitz-Birkenau errichtet und betrieben hat und das seinem Führer Adolf Hitler bis zur Selbstvernichtung treu gefolgt ist, während etwa Italien seinen Duce selbst und zur Zeit gerichtet hat. Dies ist der eigentliche Grund der deutschen Frage und der deutschen Spaltung, vergessen wir das niemals. Die Rote Armee kam nicht von selbst nach Berlin. Souveränität und Selbstbestimmung haben hierzulande ihre begründbaren Grenzen, die Nation hat eine nur schwer und über Generationen zu tilgende Schuld, und ein deutscher Nationalismus bringt keine Zukunft mehr für unser Land. In Deutschland 45 Jahre nach Auschwitz auf alles Nationale panisch zu reagieren, ist kein Anlaß zur Scham und Kritik, sondern eine überlebensnotwendige Demokratenpflicht für mindestens weitere fünfundvierzig Jahre.
Wie auch immer, das Zerbrechen der alten bipolaren Ordnung von Jalta und die demokratische Revolution in der DDR machen ein grundsätzliches Überdenken und eine Neuformulierung zentraler grüner Positionen unverzichtbar. IV
Droht die Wiedervereinigung? Steht der eine, kleindeutsche Nationalstaat (also ohne Österreich) wieder auf der Tagesordnung der Geschichte, wie führende Unionspolitiker nicht müde werden zu behaupten? Ich glaube nicht. Aber untersuchen wir die möglichen Entwicklungen, soweit sie bereits heute faßbar sind: In der Bundesrepublik besteht allein im deutschnationalen Flügel der Union ein ernsthaft ideologisches Interesse an einem staatlichen Zusammenschluß von BRD und DDR. Allerdings ist das Ausmaß dieser Ernsthaftigkeit bis heute nicht wirklich praktisch überprüft worden, das diese Position bisher nicht präzise formuliert hat, was sie für eine Wiedervereinigung tatsächlich aufzugeben bereit wäre. Ein materielles Interesse an einer Wiedervereinigung ist in der Bundesrepublik nicht feststellbar. Ganz anders hingegen die DDR.
Die DDR erlebt einen revolutionären demokratischen Aufbruch, erkämpft vom Volk auf der Straße. Wenn diese gewaltfreie Revolution erfolgreich verlaufen wird, so wird es dem Volk der DDR weiß Gott an Identität und Selbstbewußtsein, an Kraft zum eigenen Staat und zur einen deutschen Nation nicht mangeln. Daß es ohne den Stalinismus keine Existenzberechtigung für einen zweiten deutschen Staat gäbe, ist der zynische Unsinn eines SED-Dogmatikers. Er konnte sich die Kraft, die legitimitätsbildende Kraft dieser demokratischen Revolution in der DDR (wie wir alle übrigens) bloß nicht vorstellen. Wir Bundesrepublikaner, samt unseren, immer noch jeder Form der Majestätsbeleidigung abholden öffentlich-rechtlichen Medien werden noch einmal neidvoll auf diese erkämpfte revolutionäre deutsche Demokratie schauen, wenn es drüben so aufrecht und selbstbewußt weitergeht.
Das Schicksal der demokratischen Revolution in der DDR wird sich allerdings vor allem daran entscheiden, ob die ostdeutsche Republik in der Lage sein wird, ihre Ökonomie in einem überschaubaren Zeitraum mit für die Bürger greifbaren materiellen Ergebnissen so zu reformieren, daß sie als demokratisch verfaßte Republik nicht entlang des Wohlstandgefälles zur BRD an Menschen leerblutet. Die Grundlage für eine funktionsfähige Demokratie in der DDR wird eine leistungsfähige, die Bedürfnisse der Menschen befriedigende Wirtschaft sein müssen. Und am Beispiel der UdSSR kann man sehen, daß dies der schwierigere Teil der demokratischen Umgestaltung ist, da er die Interessen von Millionen betrifft. Erschwerend kommt für die Wirtschaftsreform in der DDR ebenso wie in den anderen Ostblockländern hinzu, daß diese ökonomische Erneuerung auf einer zu Teilen bereits schwer beschädigten ökologischen Grundlage vonstatten gehen muß.
Allein eine ökonomisch zusammenbrechende und an Menschen leerblutende DDR also könnte eine Wiedervereinigung innerhalb einer absehbaren Zeit erzwingen, und auch das nur vielleicht. Es sind durchaus eher katastrophalere machtpolitische Reaktionen auf einen Kollaps der DDR, dieser Republik im Zentrum des Ost-West-Konflikts und in der Mitte Europas gelegen, denkbar und wahrscheinlich. Und daß dies so ist, beweist die Tatsache, daß gegenwärtig niemand innerhalb CDU/CSU auch nur mit dem Gedanken an eine ökonomische Destabilisierung der DDR spielt, um über deren Zusammenbruch die Wiedervereinigung zu erreichen. Selbst der härteste Deutschnationale weiß, daß eine solche Politik einem Stepptanz auf dem Zünder einer scharf gemachten Bombe gleichkäme. Dennoch ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht abzusehen – und die Erfahrungen in Polen, der UdSSR und Ungarn stimmen nicht gerade optimistisch – ob und wie und, vor allem, wie schnell, eine Reform der Volkswirtschaft der DDR so bewerkstelligt werden kann, daß sie ihre Bürger, bei offener Grenze, im Lande zu halten in der Lage ist.
Eine andere Entwicklung scheint wahrscheinlicher: Beide deutsche Staaten verfügen nur über eine Teilsouveränität. Militärisch liegt sie bei den jeweiligen Bündnissystemen, und machtpolitisch (Blockzugehörigkeit und Wiedervereinigung) entscheiden immer noch die vier Siegermächte. Aber anders als die Bundesrepublik ist die DDR auch ökonomisch nicht souverän. Ein wesentlicher Teil der ökonomischen Souveränität der DDR liegt in Bonn, und die offene Grenze wird diese ökonomische Abhängikeit, bedingt durch das Reichtumsgefälle zwischen Ost und West, noch dramatisch verstärken. Mit der Öffnung der Grenze hat die DDR nunmehr nicht nur dieses Faktum der eingeschränkten ökonomischen Souveränität anerkannt, sondern zugleich den eigentlichen gesamtdeutschen Wirtschaftssouverän, die reichen Vettern in der BRD, voll in die doppelte Pflicht genommen.
Spätestens beginnend mit dem 9.November 1989 ist es vorbei mit der gesamtdeutschen Verantwortungsrhetorik der Bundesregierung, jetzt wird es praktisch mit der Verantwortung und zugleich furchtbar teuer werden. Zweimal wird die Bundesrepublik für die DDR bezahlen müssen: Zum Ersten kann sich keine, wie auch immer zusammengesetzte, Bundesregierung erlauben, eine demokratische Reformregierung in der DDR aus ökonomischen Gründen zusammenbrechen zu lassen, und ebenso wenig wird sie es politisch durchstehen können, wenn sich die DDR Richtung BRD entvölkert und in der DDR deswegen wichtige Versorgungsfunktionen, Produktionen und Dienstleistungen zusammenbrechen. Hier wird sich die Bundesrepublik sehr schnell als Gefangene der Präambel des Grundgesetzes erweisen und nahezu jede Hilfe, koste sie, was sie wolle, an eine demokratische DDR zu leisten haben. Zum Zweiten aber wird die Integration der Hunderttausenden von Übersiedlern aus der DDR gewaltige Summen hierzulande kosten, und selbst, wenn die öffentlichen Wohnungsbauprogramme in einigen Jahren spürbar greifen sollten (und solange wird das mindestens noch dauern!), so birgt eine anhaltende Zuwanderung von DDR Bürgern in der Bundesrepublik einen, bisher nicht absehbaren, sozialen Sprengstoff. Gebunden durch die verfassungsrechtlich verankerte Selbstverpflichtung gegenüber der gesamten Nation und gebunden durch das politische Eigeninteresse an einem ökonomischen Funktionieren der DDR wird die Bundesrepublik teilen müssen, freiwillig oder unfreiwillig. Die demokratische Revolution in der DDR hat den Systemgegensatz zwischen Ost und West durch den ökonomischen Gegensatz zwischen arm und reich ersetzt, und d.h. die Wiedergeburt der Nation – ob politisch einst wiedervereinigt oder auf Dauer zweistaatlich tut dabei nichts zur Sache – wird einen Verteilungskonflikt bisher nicht gekannten Ausmaßes mit sich bringen. Entweder stützt die BRD die ostdeutsche Volkswirtschaft mit D-Mark-Milliarden direkt oder die Menschen werden zu uns kommen und hier im Westen ihren Anteil individuell einklagen.
Aber auch politisch werden nach dem heißen Jubel des Novembers auf die Bundesrepublik und vor allem auf die westdeutschen Konservativen schmerzhafte Entscheidungen zukommen. Binnen Jahresfrist oder vielleicht schon früher wird es die Bundesregierung mit einer zweiten deutschen Regierung zu tun haben, die aus verfassungsmäßig zustandegekommenen freien und geheimen Wahlen hervorgegangen und damit demokratisch voll legitimiert sein wird. Vermutlich wird sie zudem über kurz oder lang einer DDR gegenübertreten, deren Verfassung geändert und ebenfalls demokratisch legitimiert sein wird. Was bleibt dann noch von der Ersatzvorname in der Präambel des Grundgesetzes für den anderen Teil Deutschlands, dem in Freiheit mitzuwirken bei der Formulierung des Grundgesetzes versagt war? Bundeskanzler Kohl betonte bis in die jüngste Zeit hinein immer wieder, daß der Kern der Deutschen Frage die „Freiheitsfrage“ sei. Was nun, wenn diese „Freiheitsfrage“ durch das Volk der DDR positiv demokratisch beantwortet wird, jenseits der staatlichen Einheit? Ist die Deutsche Frage dann geschlossen worden durch das Selbstbestimmungsrecht jenes unterdrückten Teils des deutschen Volkes, des Volkes der DDR? Was bleibt dann noch von der staatlichen Wiedervereinigung? Jede Bundesregierung wird mit einer demokratisch voll legitimierten DDR-Regierung über alle Fragen (und die Betonung liegt auf „alle“) neu verhandeln müssen, die das beidseitige, zwischenstaatliche Verhältnis zwischen BRD und DDR berühren. Und das wird dann die Stunde der Wahrheit für die Bundesrepublik Deutschland werden, wie ernst sie es tatsächlich mit der Selbstbestimmung einer freien und demokratischen DDR meint. Was wird aus den staats- und verfassungsrechtlichen Vorbehalten der Bundesrepublik gegenüber der DDR? Wird dann von den westdeutschen Konservativen die „Staatsfrage“ in den Mittelpunkt gerückt werden? Wird man dann behaupten, daß nur das ganze deutsche Volk über Wiedervereinigung oder Zweistaatlichkeit wird entscheiden können, und wird so das Selbstbestimmungsrecht des Volkes der DDR des Nationalstaates wegen in Frage gestellt?
Fragen über Fragen, und weitere kommen noch hinzu. Wenn sich die bundesrepublikanischen Konservativen mit der positiven Lösung der Freiheitsfrage in der DDR nicht bescheiden, sondern dann unabhängig von der freien Enteidung des Volkes der DDR die staatliche Wiedervereinigung in den Mittelpunkt ihrer Deutschlandpolitik stellen werden, so werden sie schon in baldiger Zukunft vor einer historischen Grundsatzentscheidung stehen, an der die Union, das Bündnis von Zentrum und Deutschnationalen in der CDU/CSU, durchaus zerbrechen kann. Die Grundsatzentscheidung wird heißen: europäische Einigung und Westintegration oder staatliche Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Beides zusammen wird es nicht geben. Bisher hat die Union diesen Wiederspruch rhetorisch ausgehalten und überbrückt. Was aber, wenn er in Verhandlungen mit einer demokratisch voll legitimierten DDR, wenn er in Vorverhandlungen um einen engültigen Friedensvertrag mit den vier Siegermächten und unseren europäischen Nachbarn praktisch entschieden werden muß?
Bleibt noch eine weitere, gewiß schlichte und doch bedeutsame Frage zu beantworten: Welche wichtige Herausforderung der Gegenwart vermag die Weidervereinigung der beiden Deutschländer eigentlich zu lösen, die ohne sie nicht mindestens genauso gut, wenn nicht gar besser gelöst werden könnte? Freiheit und Menschenrechte? Abrüstung? Sicherheit? Europäische Integration? Soziale Gerechtigkeit? Lösung der Umweltkrise? Zur Lösung all dieser Herausforderungen der Gegenwart wird eine Wiedervereinigung bestenfalls nichts nützen, schlimmstenfalls aber mehr als hinderlich sein. Wozu dann also der ganze Aufwand, wenn es mit Nationalgefühl, mit deutschem Irrationalismus, mit Nationalismus angeblich nichts zu tun haben soll? Und wo wird in der nächsten Generation dieses Nationalgefühl nach erfolgter Wiedervereinigung dann seine endgültigen Grenzen finden? Etwa „soweit die deutsche Zunge klingt, und Gott im Himmel Lieder singt“, wie der nationale Poet Ernst Moritz Arndt im Jahre 1813 die deutschen Gebietsansprüche ergriffen lyrisierte? Wird es erneut die Sehnsucht nach dem berühmt berüchtigten „Platz an der Sonne“ geben, wenn in zwanzig Jahren ein wiedervereinigtes Deutschland, in der Mitte Europas gelegen und dann wahrscheinlich eine stärkere Wirtschaftsmacht, als es Japan heute ist, erfüllt mit platzendem nationalen Selbstbewußtsein endgültig aus dem Schatten des 8.Mai 1945 herauszutreten versucht? Nobody knows, und es wäre besser für uns und unsere Nachbarn, wenn wir diese Fragen durch den Gang der Geschichte niemals beantwortet bekämen. Der ganze Weg ist einfach falsch. Und warum, verdammt noch mal, können diese Weltmeister im Beschreiten falscher Wege, die – nein! – wir Deutschen nicht endlich einmal den richtigen Weg durch die europäische Geschichte einschlagen? VI
Von der Sowjetunion ausgehend und über Osteuropa zu uns kommend vollzieht sich ein grundlegender Wandel der europäischen Staaten- und Gesellschaftsordnung. Das historische Scheitern des realen Sozialismus, der Sieg der demokratischen Revolutionen und des Rechts auf nationale Selbstbestimmung, das Zerbrechen des Ostblocks also wird auch eine Auflösung des westlichen Bündnisses mit sich bringen. Der Stahlbeton des Kalten Krieges hat sich verflüssigt, die scheinbar unerschütterlichen Strukturen der Zweiteilung Europas sind politisch bildbar geworden. Damit eröffnet sich eine einmalige Chance zu einer friedlichen Neugestaltung, ja vielleicht sogar Einigung Europas bis zur Jahrtausendwende.
Allerdings birgt diese stille Revolution der europäischen Ordnung auch immense Gefahren in sich. In Osteuropa entsteht aus dem Untergang des Satellitenbündnisses der UdSSR bisher wenig Neues. Vielmehr kommt es allerorten zur Wiedergeburt von Nationalstaat und Nationalismus, und damit einhergehend von Minderheitenhaß und ethnischen Konflikten.
Neben der Wiedergeburt des Nationalismus in Europa entsteht aus dem Wegfall der Systemfrage von Kapitalismus und Sozialismus eine zweite große Gefahr: der ideologische Systemkonflikt wird durch den Verteilungskonflikt zwischen Arm und Reich im Verhältnis von Ost und West in Europa abgelöst. Anders gesagt: der Ost-West-Konflikt wird innereuropäisch bei Beibehaltung der geograhischen Achse durch einen sozialen Nord-Süd-Konflikt verdrängt. In Polen spricht man davon, daß der ärmste Teil der Bevölkerung in diesem Winter die Hungergrenze überschreiten wird, in Ungarn geht man davon aus, daß ein Drittel der Bevölkerung unter die Armutsgrenze sinken wird, und die Verhältnisse in der DDR sind nur graduell besser. Ein solches Reichtumsgefälle bis hin zur absoluten Armut wird die wiedergewonnene Freiheit im europäischen Haus nicht allzulange auszuhalten vermögen, ohne daß sie daran kaputtgehen wird. Europa wird es nicht in Frieden ertragen, wenn in der westlichen Beletage Champagnerfeste ohne Unterlaß gefeiert werden und man sich dort fragt, ob man die Hauskatze mit Kaviar füttern soll, während andere Europäer im Keller und auf dem Dachboden desselben Hauses vor Hunger und Elend bereits an den Schuhsohlen nagen. Bei solchen himmelschreienden Reichtumsunterschieden und Ungerechtigkeiten unter ein und demselben Dach wird es im europäischen Treppenhaus bald höchst unsicher zugehen, ganz ohne Stalinismus und Rote Armee. Europäisches Haus und Friedensordnung also wird es nicht geben, wenn die militärische und machtpolitische Zweiteilung Europas nicht überwunden, sondern lediglich durch eine ökonomische und soziale Zweiteilung entlang der überkommenen Blockgrenzen abgelöst wird. Sollte gar dieser soziale Nord-Süd-Konflikt zwischen Ost und West in Europa seine Austragungsform in dem wiedererstehenden Nationalismus finden – und zwar sowohl innen- wie auch außenpolitisch –, so werden die Nachgeborenen am Ende der pax sowjetica noch einstmals nachtrauern, denn dann wird die Zukunft schrecklich werden. Neben einer stalinistischen Konterrevolution liegt in dieser Verbindung von Nationalismus mit wirtschaftlicher Krise die zweite große Gefahr für die gegenwärtige demokratische Revolution in Europa.
Eine europäische Friedensordnung wird also nicht nur auf Gewaltverzicht, nationaler Selbstbestimmung und Demokratie gründen müssen, sondern ebenso unverzichtbar auf Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit. Das heißt aber, daß die Notwendigkeit einer Teilung des Wohlstandes zwischen West und Ost, eines Reichtumstransfers also, nicht nur eine Aufgabe ist, die sich zwischen der Bundesrepublik und der DDR abspielen muß und wird, sondern daß es sich in der Tat dabei um die zentrale europäische Herausforderung handelt. Eine solche gewaltige ökonomische und soziale Aufgabe wird in den westeuropäischen Ländern aber nur dann ökonomisch verkraftbar und politisch mehrheitsfähig und durchsetzbar werden, wenn die Überwindung von Blockkonfrontation und Nationalismus eine weitgehende, bisher nicht dagewesene Abrüstung zulassen wird. Denn nur eine auf Abrüstung und freiem Vertrag beruhende europäische Friedensordnung wird die Ressourcen freisetzen können, um auch ökonomisch das gemeinsame europäische Haus, bestehend aus West- Osteuropa, konkret aufbauen zu können. Gemeinsam mit der Selbstbestimmung bildet sie daher das unverzichtbare Fundament eines Hauses Europa. Aus dieser Erkenntnis ergibt sich damit aber zwingend die Notwendigkeit, die nationale Selbstbestimmung in eine gemeinsame europäische umzusetzen. Die allein sich als Fortschritt ergebende Konsequenz aus der gegenwärtigen osteuropäischen Revolution ist daher die europäische Einigung bis hin zur Union.
Nur wenn sich die Selbstbestimmung der europäischen Nationen zur Selbstbestimmung eines freien Europas fortentwickeln wird, werden die Europäer in der Lage sein, das machtpolitische Vakuum zu füllen, das der Wegfall des kalten Krieges hinterlassen wird, ohne daß sie der alten Pest des Nationalismus wieder anheimfallen werden.
Europa wird sich innerhalb der nächsten Zeit ganz praktisch zwischen drei Ordnungsmodellen zu entscheiden haben: entweder Militärblöcke und Fremdbestimmung durch die USA und UdSSR; oder Renationalisierung und die Wiedergeburt der alten europäischen Hegemonialkonflikte; oder wirtschaftliche und politische Einigung mit allen Konsequenzen. Eine vierte Möglichkeit wird es politisch nicht geben, auch für die Grünen nicht. Ein Festhalten an der bisherigen, mehr oder weniger grundsätzlichen Ablehnung der EG oder gar einer weitergehenden Integration innerhalb der EG wird angesichts der sich jetzt überschlagenden europäischen Umbrüche allerdings direkt in die Fallstricke der Renationalisierung in Europa führen. „Je wiedervereinigter die Deutschen, desto europäischer ihre Souveränitätsrechte.“ Diese Faustregel sollte die Linke hierzulande zu ihrer politischen Beurteilungsgrundlage für alle weiteren Entwicklungen der euopäischen Angelegenheiten machen. Ob einstmals zwei deutsche Bundesstaaten oder ein deutscher Bundesstaat einer europäischen Union angehören werden, ist völlig belanglos. Wenn das „jus bellum“, wenn die wesentlichen Souveränitätsrechte der Deutschen nicht mehr in Bonn und Ost –Berlin liegen, sondern gemeinsam mit den Souveränitätsrechten unserer Nachbarn in Brüssel oder sonstwo ausgeübt werden, dann mag sich Deutschland wiedervereinigen, wie und mit wem es will. Bis dahin aber hätten wir es gerne eng verbunden getrennt. Es gibt gute Gründe dafür.
Gerade die bundesrepublikanische Linke sollte die Renationalisierung fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Denn wenn sich die europäischen Völker um Deutschland herum für die Rückkehr zum jeweils eigenen nationalen Weg entscheiden werden, so wird es den Deutschen auf Dauer nicht klar zu machen sein, warum alle dürfen sollen, nur sie als einzige nicht. Und das heißt dann schlicht Ende der europäischen Integration und Wiedervereinigung mit allen absehbaren und vor allem heute noch nicht absehbaren Folgen. Es wäre eine fatale Politik, wenn sich die Grünen allein aus der Dogmatik einer überlebten Kapitalismuskritik heraus diesen Konsequenzen verschließen würden. Wenn die Grünen mit Subjekt beim Bau des europäischen Hauses sein wollen, so werden sie zwischen den vorhandenen drei Möglichkeiten strategisch zu wählen haben. Ansonsten werden andere für uns wählen und Europa nach ihrem jeweiligen politischen Gusto ohne uns gestalten, während wir sie als lärmende Kritiker begleiten dürfen.
Einer demokratischen DDR das Recht auf eine eigene Entwicklung hier in der Bundesrepublik zu sichern; die ökologische Schadensgemeinschaft in Deutschland und Europa mit einer Politik des ökologischen Umbaus zu verbinden und so zu einer ökologischen Verantwortungsgemeinschaft über die Staatsgrenzen hinweg zu machen; die Demokratie der Straße, den „Volksdialog“ von der DDR zumindest etwas in die BRD herüberzuholen (“Von der DDR lernen heißt gewaltfrei und doch erfolgreich demonstrieren lernen!“); eine Partei der europäischen Einigung zu werden, die Ernst machen will mit einem Europa der Demokratie, der Ökologie, der Regionen und Kulturen, der sozialen Gerechtigkeit und der Abrüstung; die Ernst machen will in der Bundesrepublik mit einer europäisch multikulturellen Gesellschaft, und die nachdrücklich jede Form von Nationalismus ablehnt, auch und gerade den deutschen Nationalismus; und bereit zu sein, sich nachdrücklich einzumischen in die Auseinandersetzungen um Friedensvertrag und europäische Friedensordnung: das sind die Herausforderungen, die aus dem Tanz auf der Mauer an jenem verrückten 9.November 1989 in Berlin sich für die Grünen unmittelbar ergeben. Geschichte macht sich jetzt und wird im nächsten Jahr gemacht werden, unter anderem in Bonn. Wer sich dieser revolutionären Veränderung nicht gewachsen zeigt, wird dabei als Partei schnell und furchtbar unter die Räder kommen. Schon nächstes Jahr.
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