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Lieber Demokratie als Bananen

Wendeversuche im kleinen Städtchen Borna / Noch reist man lieber in den Westen, als am Wochenende zu demonstrieren / Die BürgerInnen sind desorientiert, doch haben sie Eigenverantwortung erkannt / Rücktritte und Neuwahlen sind auch in Borna auf der Tagesordnung  ■  Aus Borna (DDR) Jürgen Menzel

Borna, 50 Kilometer südlich von Leipzig, umgeben von Schlöten, die inmitten des Braunkohle-Tageabbaus den braunen Dreck direkt wieder an die Umwelt zurückgeben, SO2-Gehalt an diesem normalen Wochenende 0,37/0,641. Smog-Alarm gibt es keinen und die Produktion geht weiter. Doch was die Menschen bewegt sind nicht die Luftdreckwerte, sonder die Dreckwerte der führenden Partei der DDR.

Bei der ersten öffentlichen außerordentlichen Stadtverordnetenversammlung in Borna erklärten die stellvertretende Bürgermeisterin Inge Schnabel sowie Karl -Heinz Latussek, bezahlter Stadtrat für Verkehr, Energie, Umwelt und Wasserwirtschaft, ihren Rücktritt. Bürgermeister Urban liegt nach einem Herzinfarkt im Krankenhaus, nachdem die Belastungen der letzten Tage zuviel für ihn wurden.

Die straffe Diskussionsleitung der SED-Moderatoren auf dem Podium würgt jeden Versuch ab, emotionalen Unmut zu äußern; Zwischenrufe sind selten, einem Redner, der seinen Beitrag mit einem Witz einleitet, wird sofort das Wort entzogen. Die RednerInnen beginnen mit Selbstkritik an ihrer jeweiligen Organisation, dann folgen Veränderungsvorschläge, die die Stadt Borna betreffen. Nur darum soll es an diesem Morgen gehen. Der Leiter der Kommission Ordnung und Sicherheit, Simon, führt aus, daß Disziplin, Sicherheit und Sauberkeit von entscheidender Voraussetzung für Veränderungen seien. Großen Beifall erntet der Vorsitzende der Kommission Handel und Versorgung, Schneidemann, mit seiner Forderung, endlich ein Bier in Borna auf den Markt zu bringen, das von der Bevölkerung auch „angenommen wird“.

Die SED gerät durch das erwachende Selbstbewußtsein der etablierten „gesellschaftlichen Organisationen“ in Bedrängnis. War früher auch in der Stadtverordnetenversammlung alles ein Einheitsbrei, so kann das bald schon, auch ohne Neuwahlen, der Vergangenheit angehören. Rein rechnerisch könnten die Vertreter der anderen Parteien und die der „gesellschaftlichen Organisationen“ die SED jederzeit überstimmen. Das gab es freilich bisher noch nie. Nun wurde im Stadtparlament mit einer Enthaltung der Bildung von Fraktionen zugestimmt.

Der CDU-Kreisabgeordnete Michael Hirschmann fordert die Bildung eines neuen Wahlausschusses, der Manipulationen auch bei den wiederholt geforderten Neuwahlen ausschließt und die Öffnung der SED-Zeitungen für andere Gruppen. Gerade letzteres löst bei SED-Mitgliedern Kopfschütteln aus, obwohl ihre Zeitungen die Stellung einer Lokalzeitung haben.

Immer wieder werden die Privilegien der Funktionäre in Frage gestellt, ihre Abschaffung diskutiert. Bei den Verteilungsproblemen ist die Grenze zum Denunziantentum fließend. Es wird auch gefordert, die Namen derjenigen in der Zeitung zu veröffentlichen, die zwei Monate lang in Neubauwohnungen keine Miete bezahlt haben. Jeder soll seiner gesellschaftlichen Verantwortung nachkommen.

War früher die Entscheidungslinie von oben nach unten klar, so macht sich jetzt Orientierungslosigkeit breit. Von der Stasi bis zu Betriebsführungen wird bei unklaren und schwierigen Situationen gefragt „Was soll ich tun?“, doch immer weniger finden sich bereit, die Verantwortung zu übernehmen. Doch wer soll in Zukunft die Verantwortung übernehmen? Mitglieder des vor zwei Wochen nun auch in Borna gegründeten Neuen Forums zucken mit den Achseln. „Wir haben uns die ganzen Jahre nicht um diesen Apparat gekümmert, wir wissen ja meist nicht mal die Namen dieser SED-Leute“, sagt einer von ihnen. Neuwahlen wollen sie, doch je schneller sie kommen, desto größer sei die Chance der SED, an der Macht zu bleiben. Vor Sommer nächsten Jahres dürften keine Wahlen stattfinden, damit sich das Neue Forum auch vor Ort organisieren kann und genügend Kompetenz erwirbt, um sich einer Wahl zu stellen.

Auf der am Sonntag morgen erstmals vom Neuen Forum in Borna organisierten Demonstration finden sich nur etwa hundert Menschen ein. Als sie an den riesigen Schlangen vor dem Visa -Amt und der Staatsbank vorbeiziehen, wird die Schizophrenie der Lage drastisch. „Wegen 15,-DM stellen die sich stundenlang an, mitdemonstrieren tun sie nicht“ und der Aufforderung „Schließt euch an!“ folgt niemand, sie wollen erst Urlaub im Westen machen. „Mit denen sollen wir den neuen Sozialismus aufbauen, die nur die Hand aufhalten und nicht für die Freiheit eintreten“, schimpft frustriert ein Demonstrant. Doch die, die nun auch von den Veränderungen profitieren, sind sich darüber im klaren, wer den Wandel erzwungen hat. Die Demonstranten werden zaghaft beklatscht und Autofahrer warten geduldig, bis sie weiterfahren können. Vor der Kreisleitung der SED werden Transparente aufgehängt, Parolen gerufen bis ein alter linientreuer SED-Mann, Busfahrer von Beruf, Gelegenheit hat, seine Wut direkt abzulassen. Er reißt ein Transparent herunter und putzt damit seine Scheibe. Die Provokation ist perfekt, doch außer verbalen Beschimpfungen geschieht nichts. Die Opposition ist um friedliche Umgangsformen bemüht. „Wir wollen nicht Rache üben für die letzten Jahre, aber die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden“, fordert am Sonntag abend beim Friedensgebet ein Redner. Die Stadtkirche von Borna ist übervoll. Ein Lehrer bekundet, daß er in Zukunft selbst die Schulbücher nach Falsch- und Halbwahrheiten durchforsten will und nur noch das an seine SchülerInnen weitergeben, was er auch selbst vertreten kann. Die Orts-CDU bietet dem Neuen Forum an, Unterschriftenlisten von sich im CDU-Büro auszulegen, so daß dort jederzeit unterschrieben werden kann für Neuwahlen. Großen Beifall erntet eine Frau, die sagt: „Uns geht es doch nicht um Bananen, sondern um Demokratie, die wir wollwn.“

1 Veröffentlichung der 'Leipziger Volkszeitung‘ vom 10.11.89. Angabe in mg7m3 (24-h-Mittel/12-12 Uhr max. Halbstundenmittel); Grenzwert der DDR: SO2 0,15/050.

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