: LAUTER REGELKREISE
■ Das diesjährige Karl-Hofer-Symposion der HdK beschäftigte sich mit dem Thema „Utopie-Utopien“
Den Blick gelöst von Erscheinungen zeitgeistiger Hysterie, die euphorisch fehlschließend den Zusammenbruch des Apparates mit Namen DDR als politisches Ereignis begrüßt, gelöst von den unterschiedlichsten ökonomischen Notschlachtungen dieses Phänomens, gelöst von den Verklammerungen von Medien & transnationalen Kapitalströmen, schließlich gelöst von den Ausfällungen dieser vektoriellen Geschwindigkeit in U-Bahn, Aldi & Bank & die Augen auf eine Veranstaltung gerichtet, die sich des Themas Utopie annahm: In mehrerer Hinsicht berührte das reale Geschehen in Ost & West das Symposion; Bärbel Bohley wurde der Karl-Hofer-Preis für Verdienste um Kunst & Politik verliehen, & augenfällig war ein wortloser Kommentar der Massen: Sie waren vom letzten Dienstag bis zum letzten Samstag nicht an den Orten der theoretischen Aufhellung, an der HdK, präsent, sondern an denen des faktischen Erlebens. (Wenn selbst die Schulen schließen, damit die Schüler „authentischer Geschichte“ beiwohnen können, wer erwartet dann noch Gedränge in der HdK?)
Interdisziplinarität, der „Blick auf das Ganze“, wurde von den Veranstaltern erhofft, & Referenten aller Fachbereiche folgten dieser Bitte. Wenn ich ein Fazit dieser Tage zu liefern hätte, dann dieses: Die Zeit der Utopie im politisch -historischen Text ist vorbei.
Arnhelm Neusüss nahm in seinem Vortrag Utopie & Moderne zum „Problem des transitorischen Charakters utopischen Denkens“ Stellung. Er bestimmte zunächst den Begriff Utopie als dem historischen Kontext des 16. Jahrhunderts, dem Beginn der Neuzeit & der Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft zugehörig & ordnete die Utopie dort den Waffen des Bürgertums gegen den Feudalismus zu. Es galt, „das Wissen über den Glauben zu setzen, den Gedanken der natürlichen Gleichheit zu etablieren“. Die aufkeimende Möglichkeit von Freiheit schreckte viele, die sich in der Gemeinschaft des Feudalismus geborgen fühlten, & hier setzte die Utopie an, die behauptete, „daß die Menschengleichheit durchaus als Gemeinschaft harmonisch gelingen kann“.
Neusüss nannte den Autor des Entwurfs „Utopia“, Thomas Morus, einen Angehörigen „der neuen Schicht der Intellektuellen“, die die Aufgabe der Sinnproduktion vom Klerus übernahm & das „Denken als Herstellungskalkül, als skeptisches Abwägen von Zweck-Mittel-Relationen, in einem Wort: das bürgerliche Denken“ ausbildete. Er betonte die Bildung dieses „instrumentellen Rationalismus“ nachdrücklich & dessen Bedeutung für die Utopie; es handele sich eben um jene „Fortschrittsphilosophie, die in der Vervollkommnung (& Verfügbarkeit!) des Menschen das Telos der Geschichte ausmacht.“
Seien hier noch einige von Neusüss‘ Gedanken zum Charakter von Utopien - im Wandel ihrer Entwicklungsgeschichte genannt: Zentrale Kategorie im utopischen Entwurf ist die Autorenschaft, ähnlich wie auch „die Umwälzung der Sozialwelt“ durch „menschlichen Gestaltungswillen“ möglich ist. Zudem seien Utopien sowohl idealistisch (der Autor, Utopiker als Schöpfer) als auch materialistisch (die durch die Utopien erzeugten neuen Seinsbedingungen schaffen den neuen Menschen). Wichtig ist ebenfalls die zunehmende sozio -politische Komplexität sowie entsprechend die fortschreitende Trennung von Staat & Gesellschaft; beidem verspricht die Utopie Rechnung zu tragen: durch simplifizierende Vorstellungen des „Eins-Sein im Sozialen“. Hierzu war es nötig, Geschichtsphilosophie & Sozialphilosophie in „evolutionäre, durch aufklärerische & reformerische Tätigkeit zu fördernde Verbindungen zu bringen“. Ein Unternehmen, das schließlich im „echt utopischen“ Marxismus endet: „Geschichte soll einen 'Fahrplan‘ (Bloch) haben, dennoch soll in sie eingegriffen werden können - frei, aber vorschriftsmäßig, bewußt, aber programmiert, tapfer, aber mit Effektgarantie. Das war die letzte Gestalt der Utopie, die einzig authentische, die gerade zerfällt.“
Auch die noch die meisten Zuhörer interessierende Diskussion zwischen den Symposien-Philosophen Dietmar Kamper & Odo Marquard unter Leitung von Florian Rötzer (immerhin 40 Personen bemühten sich in den Konzertsaal der HdK, wo erst vor kurzem die Adventisten noch zu Massen gesprochen hatten) verabschiedete sich vom Gedanken der Utopie. Kamper eröffnete das Gespräch mit einem Statement zur Frage, ob „wir“ „Utopien“ „brauchen“. Er forderte einen aufgeklärten Umgang mit Utopien (den Plural betonend) ein, mochte sie als „Breschen im Kontext, als Merkposten, daß eine unfertige Welt dem Menschen gemäß ist“ begriffen wissen. Auch Marquard sprach sich ganz entschieden gegen eine Utopie aus. Er anerkenne zwar das von Plessner Gesagte („Der mensch ist ein utopisches/ortloses Wesen“) & die unvermeidlichen Versuche der Standortbestimmung. Doch widerstrebe ihm, Marquard, an Utopien vieles; so der Gedanke an das „Utopisch/Unmögliche, das Handlung in Bewegung setzen soll“, weil diese Versuche der Realisierung von Utopie zur Totalisierung tendierten.
In der anschließenden Diskussion ergriff zunächst Rötzer das Wort, gegen Marquard; ob er denn nicht die fatalen Folgeschäden von Fortschrittsphilosophie & die durch die Modernisierung bedingten Erfahrungsverluste feststelle. Marquard erwiderte, daß diese Mißstände zu beheben nicht eine Forderung nach Utopie impliziere, sondern eine nach „guter Politik, einer Politik, die Ziele hat“. Kamper gab zu bedenken, er sehe eher das Reale schwinden, denn die Utopie & worauf sich gute Politik dann überhaupt beziehen solle?
Marquard erinnerte, daß „die Unversöhnlichkeit mit Wirklichkeit kein Wert an sich sei“ & spezifizierte nochmals seine Frage, inwieweit der Gebrauch von Utopie (mit implizierter Gegenwartsnegation) „Positivitätspotentiale“ in der Wirklichkeit übersehe. „Wir haben kritisches Potential nicht durch das Gegeneinanderstellen von Utopie & Realität, sondern durch das Gegeneinanderstellen der verschiedenen auf der Erde vorhandenen Realitäten.“
Kamper, den Begriff der „Illusion“ einführend, schlug vor, es mit dessem ursprünglichen Sinn des „ein Spiel zu wagen, ein Risiko einzugehen“ zu versuchen. Marquard griff auf Adorno zurück: „Das Bestmögliche erreicht man, indem man aus der Situation, die schrecklich ist, entflieht.“ Er sehe auch mehr Defektflüchter als Zielstreber unter den Menschen. Auch die historischen Utopien seien in erster Linie Regressionen gewesen, da sie in offener werdenden Gesellschaften zumeist die überholte Struktur der guten, geschlossenen Gesellschaft gezeigt hätten.
Lutz Huth, einer der Veranstalter, richtete an Kamper die Frage, ob, bei Konstatierung einer Verwischung von Kunst & Wirklichkeit, man von einer Ästhetisierung des Politischen sprechen könne. Kamper bejahte dies mit Schelling sprechend: „Alles wird Kunst“ & sah in der heutigen Gesellschaft diesen Drang, „alles zu inszenieren“, der die Differenzierungen verschwinden mache & auslösche. Er benannte das Problem, sich in einer solchen Welt mit Theorie/Maßstab zu orientieren. Kurz: Nicht dem Verlangen nach einer neuen „Total-Utopie“, wie es ein, sich durchaus mit schmucken Leerformeln bewaffneter, Zuhörer einforderte, wurde das Wort geredet, sondern einem pragmatischen Umgang mit Differenzen & Brüchen, im Imaginären wie im Realen.
Olaf-Axel Burow, Verfasser gutgemeinter „Flugis“, in denen er sich selbst einen Anhänger „humanistischer Psychologie“ nennt, leitete einen Workshop, betitelt „Von der Ohnmacht in der Risikogesellschaft zur konkreten Utopie / Synergie Interdisziplinarität / Humanistische Vision“. Exemplarisch vorexerziert wurde das Scheitern dieser Utopie, die tiefe Kluft zwischen Anspruch & Realisierungsvermögen.
Zunächst trafen sich die guten Menschen in aller Frühe, während sich draußen das „Techno-soziale-Laboratorium“ (Burow) Ost-Berlin-West in Echtzeit selbst inszenierte. Burow bemerkte einleitend „eine wahnsinnige Tendenz zur Destruktivität“ in unserer Gesellschaft & warnte uns Freunde der Eine-Meinung-Haberei vor der Vorstellung, „böse Menschen, die ihre Triebe ausleben“ (Märchenstunde) wären für das Übel der Welt zu verantworten. Ach. Dann absolvierten wir das penetranteste & langsamste Initiationsritual, an dem ich je teilnahm; um der erlösenden Wahrheit teilhaftig zu werden, führten wir eine Art Beichte durch. Das strukturimmanente Machtdispositiv der Befragung des Leibes wurde unterschlagen, verschwiegen, hingenommen - wir stellten uns statt dessen gegenseitig vor. Wieso ist die Welt der guten Menschen so verdreht & langweilig?
Es wurden dann Listen der Begebenheiten, die uns beunruhigen (in rot) & die wir nicht missen wollen (in grün), erstellt. Nett zu sehen, daß Burow „Chaos, als Ausbruch von Destruktivität“ der bösen Seite zugehörig betrachtete. Plötzlich jedoch (wie das nun mal seine Art ist) betrat der ganz Andere den Sammlungsraum der Gruppe & schlug ganz spontan eine Bresche in den niedlichen Bezugsrahmen. Er wanderte umher, begutachtete Schrank & Steckdosen & verkündete: „Sie haben mich gerufen. Was kann ich für Sie tun? Schön, sehr schön hier. Alles Regelkreise.“ Meine Kameraden waren verwirrt & sprachlos, Burow menschelte den Eindringling hinaus, & Betroffenheit kam auf.
So geht das. Überdeutlich das Unvermögen, sich dem Fremden zu stellen, überdeutlich der Unwille, sich die gutmeinende Welt in Unordnung bringen zu lassen. Das war's dann wohl.
Natürlich gab es während des Symposions auch Vorträge, die der Frage nach der Beziehung von Kunst & Utopie nachgingen. Sei kurz die lebhafte Diskussion zwischen Juppy Becher (Ufa -Fabrik), R. Mieritz (ZDF), Ben Wargin & Ulrich Roloff-Momin (HdK) unter der Leitung von Justus Boencke genannt. Ausgangsthema war die „Kunst als Umweltbelastung“. Doch nachdem Roloff-Momin kuzerhand klarmachte, die Kunst dürfe auch mal zulangen, sie würde ja schließlich die Probleme thematisieren, änderte sich der Verlauf der Debatte in Richtung auf den Charakter von Kunst „an sich“ hin. Am Ende wurde klar, daß man Kunst machen müsse & nicht nur an ihr partizipieren solle, denn es sei auch ihre Aufgabe, dem einzelnen einen Platz zu bieten, wo er zu sich selbst kommt. (Becher).
Ernest Berk rief mit seinem Referat Das Theater auf dem Weg zur Automatisierung im Publikum überwiegend ungläubige Heiterkeit hervor. Er begann mit der These, daß die neuen, im Theater Anwendung findenden Technologien den Anspruch an die Phantasie des Zuschauers vermindern würden. Dennoch hätten sie das Wesen des Theaters nicht verändert. Dann jedoch skizzierte er die Vision eines Spektakels, das die „beengenden Wände der bestehenden Wirklichkeit“ durchbreche. Analog zu Huxleys „Fühlkino“ (Schöne neue Welt) werde ein Theater entstehen, das „körperlos & der Wirklichkeit entrückt“ die Zuschauer mit holographischen Projektionen „in den leeren Raum, als totale Illusion“ anregen würde. Drehbare Sessel mit elektronischen Impulsgebern werden Gefühle stimulieren & können auch mal physische Erschütterungen simulieren. Diese Utopie brachte die Hörerschar zum Lachen; Kunststudenten interessieren sich wohl wenig für Disneyland & Computeranimation, George Lucas‘ Firma „Dreams Inc.“ oder das Cyberpunk-Genre, wo moderne Technologien antizipiert werden.
Schweigen breitete sich dann allerdings aus, als Berk einen älteren Videobeitrag des SFB abspielte. Dort wurden Beispiele gezeigt, wozu die Computer-Animation bereits heute in der Lage ist, was deshalb brisant ist, weil wir uns zunehmend via technische Bilder verständigen & an den Wahrheitsgehalt dieser Bilder glauben. Gezeigt wurden also Modifikationen von Kanzler Kohls Haupt, er wurde in eine Demo-Szene hineinmontiert, wir sahen mental images, verdichtete Fantasiewelten & die Auferstehung von Marilyn & Humphrey im simulierten Raum. Berk ist anzurechnen, daß er nicht ins apokalyptische Horn stieß, die gezeigten Technologien würden das überkommene Theater verdrängen, nee, der Meinung war er nicht. Vielmehr interessierte ihn, auf den Zusammenhang zwischen „Vorstellungsbild“ (Ikone des Begehrens) & „Zugang zur Welt“ hinzuweisen.
Dieser Ansatz scheint insbesondere dann nachdenkenswert, wenn man den data-suit der NASA in Betracht zieht. Alle Cyberpunks warten auf ihn, seit einigen Jahren ist er zu haben: Mittels eines speziellen vernetzten Helms, Handschuhs & Overalls ist es möglich, in den „Cyberspace“ einzudringen, sich also in Echtzeit im konzeptuellen Raum, den dem die Daten ausgetauscht, gespeichert werden, zu bewegen. Es ist also möglich, in elektronische Räume einzusteigen, sich selbst in „Batman“ einzukopieren etc. Das ist nun wirklich eine utopische Alternative, & hier könnten Utopien auch auf ihr Konkretisierungsvermögen überprüft werden. Wie auch mathematische Formeln, Desaster-Simulationen oder Traumprinz -Suche.
In der Diskussion kam leider kein einziger neuer Gedanke auf; da wurde auf die Gefahren von Technologien hingewiesen (das Bilder manipulieren, sollte doch jedem klar sein. Und was mich beunruhigt, ist nicht der data-suit selbst, sondern, daß ich ihn nicht ausprobieren kann.), Anhänger der alten Künste machten die (Post-)Modernen madig & bescheinigten sich gegenseitig die Qualität ihres Tuns. Peter Kriegs Film „Maschinenträume„ war in der das Symposion begleitenden Reihe im Steinplatz zu sehen. Kriegs These lautet, daß sich erst durch 1.000 Jahre Neuzeit hindurch - beginnend beim Heiligen Benedikt & dessen „Ora et labora„-Formel - das Verhältnis Mensch/Maschine zur getakteten Menschenmaschine unter dem Joch von Ordnung & Zeit entwickeln mußte, bis durch die Aufklärung - „Das höchste Ziel der aufgeklärten Erziehung ist der Mensch, der das, was er tun muß, gerne tut.“ - hindurch schließlich & endlich die mechanischen Maschinen aus einem, nun in den Körper geordneten Begehren heraus entwickelt & erschaffen wurden - als Entfaltungen der Wünsche & Ängste des Menschen. Und auch heute wird das Verhältnis des „geschaffenen, künstlichen Schöpfers“ zu seinen „Geschöpfen“ von „Wunsch- & Angstprojektion“ bestimmt: „Die Maschine muß töten, damit wir leben können.“
Krieg montiert Bilder, Thesen, Interviews nicht linear hintereinander, sondern eher in der Art sich ständig kreuzender Ballungen, Knoten. Einiges an Material aus dem Film: Es taucht immer wieder ein Video-Clip mit US Marine -Ausbildern auf, in dem die beiden Schleifer sagen: Wir formen eine funktionierende Maschine. Krieg zeigt eine altertümliche mechanische Puppe, eine Maschine also, die in grandioser Verdoppelung schreibt: Cogito, ergo sum. Wir sehen einen Japaner, der nahezu menschlich aussehende Roboter entwirft, sie weisen Gesichtsmuskulatur & bewegliche Gelenke auf, der Mann entwickelte eine Marilyn, eine zweite auf Bestellung konnte er nicht bauen, er wurde depressiv, die „Marilyn“ wurde alt & häßlich. Wir sehen andere Liebesmaschinen im Opel-Werk, graziele Roboter, die Autos zusammenschweißen, Maschinensex. Doch nicht nur die externalisierten, psychischen Maschinen reproduzieren sich; Minsky, Chef am MIT & Entwickler von AI-Systemen, sagt deutlich: „Wir müssen auf unsere Geschöpfe (die Roboter) achten, wir tragen Verantwortung für sie. Mehr Verantwortung als für unsere biologischen Kinder, denn diese sind ja nicht unsere Kinder, wir sind nicht ihre Eltern, wir übermitteln ihnen lediglich das genetische Material der Dinosaurier.“ Junggesellenmaschinen. Jim Whiting tritt in „Maschinenträumen“ auf, macht ambivalente Gefühle zu seinen Maschinen deutlich. Und schließlich gibt es ein Interview mit von Puttkammer, dem Chef der NASA, der wasserstoffblond & mit wenig Gesichtsmuskulatur ein echte Cyberpunk zu sein scheint, er verspricht man/machine-interfaces in naher Zukunft, propagiert, sich Biochips in die Nacken-Nerven -Bahnen zu implantieren. Und so weiter. Das sind nur einige Beispiele.
Zu diesem Film, mit seinen utopischen Darstellungen, gab es eine Diskussion zwischen dem Regisseur Krieg, H. v.Nußbaum & N. Grob. Nußbaum, scharfzüngig, brachte seinen Einwand auf den Punkt: Kriegs Film sei in seinen Darstellungsmitteln nicht utopisch, er transzendiere, erweitere die Grenzen der Filmsprache nicht. Im Gegenteil, seine Bilder würden lediglich der Illustration der sprachlichen These dienen. Was zutreffen mag. Offensichtlich wurde während des Symposions der sozio-politischen Utopie eine Abfuhr erteilt. Allein in den Bereichen der Kunst/„künstlichen Realitäten“ könne sie vielleicht noch anzusiedeln sein. Mich interessierte die Frage, inwieweit die neuen Maschinen der Simulation Einfluß auf Begriffsbildung/Welt-Anschauung haben, wie sich die Beziehung zwischen Ordnung, Körper/Imaginärem & Technologie gestalten möge. Ich sprach Dietmar Kamper an, der sich seit geraumer Zeit mit den verschiedensten Problemen von Körperlichkeit beschäftigt und erhielt folgende thesenartige Antwort:
„Wenn man das Imaginäre aus einem Verhältnis der Menschen zu ihrem eigenen Körper herleitet, dann ist es sowohl durch äußere Ereignisse (wie Geburt, Sex, Tod) veranlaßt, als auch wie eine innere Bühne strukturiert: Gestalten & Figuren werden in Szene gesetzt; sie reflektieren in einem Drama der Erinnerung den biographischen & historischen Prozeß.
Durch Substituierung des Körpers & der Körperlichkeit, wie sie in Disziplinierung & Zivilisation fortschreitet, schwindet nach & nach die Außenbeziehung. Die Maschine, die zunächst - in der Mechanik - mittels einer Prolongation von Gliedmaßen konstruiert wurde, entsteht neuerdings - in der Elektronik - durch Extension von Organen, besonders des Gehirns.
Abstraktion heißt immer Entkörperlichung. Das Gehirn aber ohne den Körper hat keine Möglichkeiten, außen & innen zu unterscheiden. (...) Das Imaginäre wächst sich zu unendlicher Immanenz aus. Die entstandene Video-Welt verführt zum Anschluß des Begehrens an sich selbst. Die anderen Menschen & die Dinge verschwinden.“
Rudolf Stoert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen