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Es gibt keine Improvisation

■ Mit Astor Piazolla unterhielt sich Werner Stiefele

Der „Tango Nuevo“ ist sein Werk, der kunstvolle Tango also, der in den Konzertsälen gespielt wird. Der aber wird immer melancholischer und aufwühlender - Astor Piazzollas neueste Platte „La Camorra: La Soledad de la Provocacion Apasionada“ beweist es.

Was empfinden Sie, wenn Sie ein europäisches Rundfunkorchester Tango spielen hören?

Astor Piazzolla: Ich muß kräftig lachen. Das ist ein Witz. Jedes europäische Orchester, das behauptet, Tango zu spielen, sollte wissen: Tango ist eine Art zu leben. Man muß den Tango atmen.

Der Tango kam ursprünglich aus der Unterschicht. Wo ist er heute angesiedelt?

Das kommt darauf an. Er kann in der Unterschicht plaziert sein - ich meine die Unterschicht im Hören. Ich dagegen gehöre zur Oberklasse des Hörens. Ich spiele eher für Leute, die meine Musik lieben, als für Leute, die den Tango lieben.

Zehn Jahre vor dem Ende des 20.Jahrhunderts können wir nicht mehr dieselben Tangos spielen wie vor 50 oder 60 Jahren. Die Deutschen scheinen daran allerdings Spaß zu haben. Sie wollen Tango-Shows und den Leuten beim Tanzen und Singen zusehen. Viele können sich nicht vorstellen, daß es auch Leute gibt, die Musik machen, damit man zuhört.

Keiner würde akzeptieren, daß zu einem Ballett von Strawinsky so getanzt wird, wie manche Ballette zu meiner Musik tanzen. Strawinsky ist keine populäre Musik. Meine Musik ist es auch nicht. Ich mache ausgearbeitete Musik, die nichts mit den Anfängen des Tangos zu tun hat - auch wenn sie das Parfüm des Tangos enthält.

Wohl nicht nur das Parfüm.

Neunzig Prozent sind ausgearbeitete Musik. Unter dieser Oberfläche können Sie den primitiven Tango hören. Sie können den mittleren Tango von 1920 hören, sie können den Tanztango von 1940 hören, und sie können den zeitgenössischen Tango von heute hören.

Der Tanztango ist auch heute noch in Argentinien lebendig.

Einige denken, daß sie dem Tango ein folkloristisches Image geben müßten. Meine Musik repräsentiert meine Stadt Buenos Aires. Es ist keine argentinische Musik, das ist urbane Musik aus der Stadt Buenos Aires. Ich kann in Paris spielen, in Rom, New York City, Tokio, und jedermann kennt meinen Sound. Das ist der Sound von Buenos Aires. Jorge Louis Borges sagte, ein Mann ohne Stil sei sein Leben lang nichts wert. Ich habe meinen Stil.

Haben Sie jemals den Bandoneonspieler Dino Saluzzi gehört?

Oft. Solange er seine eigene, folkloristische Musik macht, ist er einzigartig. Ich mag es aber überhaupt nicht, wenn er Free Jazz spielt. Jemand muß sein Bandoneon vergiftet haben, als er ihn aus seiner Provinz Salta in Argentinien holte. Er sollte stolz auf seine Musik und auf seine indianischen Wurzeln sein. Aber er tut so, als ob er sich dieser Musik schämen würde. Aber er ist sehr dickköpfig. Er will weiter Jazz und Free Jazz spielen. Ich halte nichts vom Free Jazz. Und nichts von Leuten, die Free Jazz machen. Ich mag Charlie Parker, Miles Davis, Gerry Mulligan. Denn was sie spielen, ist ausgearbeitet.

Mit Gerry Mulligan haben Sie in den 50ern zusammengespielt und Platten aufgenommen.

Eine wunderbare Erfahrung - genauso mit Gary Burton. Ich schrieb keinen Jazz, ich schrieb meine Musik, und sie spielten meine Musik. Dadurch war der Sound von Gerry Mulligan und Gary Burton in meiner Musik.

Sie schrieben auch ein Streichquartett für das Kronos Quartet. Wie kam es zu der Zusammenarbeit?

Das war ganz einfach. Sie baten mich, etwas für sie zu schreiben, und so schrieb ich ein kurzes Stück von acht Minuten. Im nächsten Halbjahr folgt nun ein vollständiges Streichquartett für sie. Außerdem schreibe ich ein Bläserquintett für das Santa Fe Chamber Music Festival. 1990 werde ich viel komponieren...

Auch für Ihr eigenes Ensemble?

Natürlich schreibe ich auch für das Sextett.

Wieviel bei den Auftritten ist komponiert, und wieviel ist improvisiert?

Es gibt keine Improvisation. Es gibt nur eine Freiheit des Ausdrucks. Das ist wie eine Improvisation. Wie man spielen soll oder phrasiert, das kann man nicht festlegen. Das muß man jedem Musiker überlassen. Ich gebe die Melodielinien vor. Die spielen sie so, wie sie sie fühlen. Damit hole ich gute Musik aus ihnen heraus.

Sie spielten früher im Quintett. Warum haben Sie das Ensemble verändert?

Ich lag im Bett und dachte daran, daß ein neues Jahr kommt und ich anders als Astor Piazzolla sein wollte. Aber außer mir gibt es keinen, der das sein könnte - was mich sehr traurig macht. In Argentinien stehe ich gegen alle und alle gegen mich. Es tut weh, daß es keinen Musiker in Argentinien gibt, der etwas Neues macht.

Und warum?

Weil sie Angst haben. Man braucht Mut und die richtige Muse, um neue Sachen zu machen.

Das haben die anderen Musiker nicht?

Sie verdienen mit mittelmäßiger Musik viel Geld. Daran gewöhnen sie sich, und dann sterben sie als mittelprächtige Musiker. Neue Musik bringt nicht viel Geld. Als ich jung war, wollte ich ein großer Musiker sein. Ich studierte. Ich wurde ein großer Musiker. Das war einfach. Mit 35 war ich soweit. Seitdem mußte ich ein großer Musiker bleiben. Das ist bis heute das schwerste in meinem Leben.

Dabei sind Sie in Argentinien immer noch umstrittener als in Europa.

Ja, die alten Leute, die sentimental in der Vergangenheit des traditionellen Tangos leben, haben mich immer noch nicht akzeptiert. Aber ihre Söhne, ihre Enkel, die lieben mich sehr. (Das dachte ich mir, daß ein solcher Erotomane nur von Männern gemocht wird! d.S.) Ihre Enkel sind heute 16 oder 17. Sie lieben Rock'n'Roll und Michael Jagger oder Madonna oder U2 oder die Beatles. Die wollen keinen altmodischen Tango hören.

Als ich jung war, bekam ich Drohungen am Telefon, weil ich den Tango veränderte. Heute nehme ich das leicht. Wer den traditionellen Tango hören will, der kommt nicht in meine Konzerte. Für die gibt es andere Orte. Nur Leute, die Musik lieben, kommen zu mir.

Gehen Sie in Lokale, in denen der traditionelle Tango gespielt wird?

Nie. Das interessiert mich nicht. Nicht einmal als ich jung war, ging ich dorthin. Ich war sehr intelligent, als ich jung war. Damals hörte ich gerne Bach.

Aber Sie spielten in den Bordellen.

Ich spielte in Bordellen, ich spielte in Cabarets und an den schmuddeligsten Orten, die man sich vorstellen kann. Weil ich Geld verdienen mußte.

Ich sah mir die Tanzenden an. Sie zogen mich an, denn ich entdeckte, daß sie, während sie miteinander tanzten, miteinander vögelten. Borges nannte den Tango eine vertikale Vergewaltigung. Das ist eine wunderschöne Formulierung. Wenn man richtige Tangotänzer sieht, sieht man nicht zwei Leute, sondern nur einen, so dicht stecken sie zusammen. Deshalb mögen die Leute die Tangotänzer. Für sie ist das erotisch.

Ich denke, Ihre Musik ist nicht minder erotisch...

Meine Musik ist sehr leidenschaftlich. Wenn in meiner Musik keine Leidenschaft oder Energie wäre, könnte man sie vergessen. Gleichzeitig ist sie aggressiv. Sie kann sehr gewalttätig sein, kann revolutionär sein und zur gleichen Zeit auch sehr traurig und melancholisch.

Manche sagen, ich sei ein Masochist, denn meine Musik sei in gewisser Hinsicht quälend. In meinem Privatleben bin ich kein Masochist, aber vielleicht, wenn ich schreibe.

Und wie schreiben Sie?

Wenn man schreibt, malt oder komponiert, steht immer einer hinter einem, der einem diktiert, was man zu tun hat. Wenn einen dann das Radio oder sonst etwas aufschreckt, kommt man in eine andere Welt. In eine echte Welt, in der man etwas ißt, einen Whiskey trinkt oder einen Kaffee. In eine Welt, in der man mit seinen Freunden ausgehen will. Wenn man zurückkommt, ist der Engel wieder da, diktiert wieder, und man schreibt weiter. Wieder ist man in einer anderen, verrückten Welt. Das ist, als hätte man seine Sinne nicht ganz beisammen. Aber es ist schön, seine Sinne auf diese Weise nicht beieinander zu haben.

Inwiefern?

Man schafft etwas. Nein, eher entdeckt man etwas, denn die ganze Musik ist geschrieben. Keiner schafft etwas wirklich Neues. Seit Johann Sebastian Bach gibt es keine Komponisten mehr. Bach hat alles in der Musik erfunden. Wenn Sie Schönberg hören oder Alban Berg, hören Sie in all dem immer Bach. Bach erfand alles. Was wir machen, ist nichts anderes, als neue Dinge zu entdecken und sie in die Musik hineinzubringen. Wir erfinden keine neuen Klänge mehr. Nur die Leute, die mit Synthesizern arbeiten, die entdecken Geräusche und neue Sounds. Aber wir, die mit den zwölf Tönen der Tonleiter arbeiten, wir entdecken so gut wie nichts. Wir bringen lediglich Rhythmen hinein.

Kennen Sie Synthesizermusik, die Sie akzeptieren können?

Nein. Das ist alles Scheiße. Absolute Scheiße. Das kann man nicht Musik nennen. Das ist eine Beleidigung der Musik, aber keine Musik. Ich glaube an das Papier. Ein Notenblatt in die Hand nehmen und Musik aufschreiben, das ist die einzige wichtige Sache. Wenn Sie Musik von Bach hören: sie ist so wunderbar. Oder Mozart: Was wollen Sie diese schrecklichen Synthesizer hören, wenn Sie so wundervolle Musik gehört haben. Penderecki ist ein zeitgenössischer Komponist. Auch er ist wunderbar, auch er holt die Klänge aus den akustischen Instrumenten. Genausowenig brauchten Strawinsky oder Bartok, Alban Berg oder Schönberg Synthesizer.

Ich bin ein sehr moderner Mensch. Ich mag alles, was modern ist - nur die Computer in der Musik nicht. Genausowenig wie Computer in der Dichtkunst oder in der Malerei.

Wie alt ist Ihr Bandoneon?

Ich habe es bekommen, als ich neun Jahre alt war. Ein Bandoneon ist ein teuflisches Instrument. Man muß verrückt sein, wenn man Bandoneonspielen lernen will. Wenn Sie an einem Klavier sitzen und spielen, sehen Sie für die linke und die rechte Hand dieselbe Tonleiter. Auf dem Bandoneon ist das anders. Die linke Hand ist völlig anders als die rechte. Auch wenn man das Bandoneon öffnet und schließt, verändern sich die linke und die rechte Hand.

Komponieren Sie mit dem Bandoneon?

Nein. Dafür benutze ich mein Klavier.

Sie beginnen also in den Strukturen eines anderen Instruments?

Ja. Als ich mit dem Komponieren begann, sagte mir mein Lehrer, durch das Klavier bekäme ich ein gutes Bild dessen, was ein Orchester ist. Deshalb habe ich Klavierspielen gelernt. Ich bin ein entsetzlich schlechter Pianist, aber zum Schreiben reicht es.

Mir wurde schon oft angeboten, mein Bandoneon an einen Computer anzuschließen. Ich sagte: Ich habe genügend Mühe damit, mein Instrument zu spielen. Ich will dieses arme Instrument nun nicht in einen Computer verwandeln. Lieber lasse ich es, wie es ist. Das ist besser.

Ich mag die Leute, die sich die Augen verderben, indem sie schreiben. Ich habe mein Leben damit verbracht. Dagegen kann ich nicht verstoßen. Nun kommt einer daher, mit einem Synthesizer, und in vielleicht einer Sekunde schreibt der all die Musik, die ich in 40 Jahren geschrieben habe. Ich denke, das ist ungerecht. Deshalb bin ich dagegen.

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