: Vive la Republique
■ Die große Französische und die deutsch-demokratische Revolution
Was in diesem Jubeljahr der Franzosen in Paris verzweifelt simuliert wurde, erlebt ein überraschendes Real-Remake im Arbeiter- und Bauernstaat: die Französische Revolution. Wonach sich die deutschen Jakobiner einst vergeblich sehnten, wird mit zwei Jahrhunderten Verspätung endlich nachgeholt - dabei dank feudal-sozialistischer Zustände bislang sogar originalgetreu in allen Episoden.
Es begann mit dem Sturm auf die Berliner Bastille-Mauer, die durch das ungarische Schlupfloch sowieso zu einer Grenzbefestigung von nur mehr symbolischem Wert geworden war. Wie einst in Paris wurden Mauersteine in alle Welt geschickt, um den handfesten Beweis zu liefern, daß auch Symbole eine materielle Präsenz haben.
Kaum war die Bastille gefallen, wurde auch schon das neben der Sonderbevorratung am Hofe zu Wandlitz - am meisten beneidete Privileg der Provinzfürsten abgeschafft: das Jagdrecht. Mecklenburger Sansculotten strömten letzte Woche vor die Jagdschlösser, um Inventur zu machen. Daß noch keine Bonzenburg in Flammen aufging, ist reiner Zufall. Die mäßigende Rolle des Klerus wird wieder einmal das ihre dazu beigetragen haben.
Auch die Einberufung der Generalstände der Partei für Mitte Dezember hätte dem neuen Monarchen nicht die ersehnte Stabilisierung seiner Position gebracht - Krenz war längst ein König ohne Land, und Teile des Hofes konspirierten bereits mit den Aufständischen, um die eigene weiße Haut zu retten.
Sorgenvoll schauen die Revolutionshistoriker jetzt auf die zweite Phase der deutsch-demokratischen Revolution. Wissen sie doch, daß der friedsamen und glücklichen Etappe nach den Gewohnheiten der Geschichte das „Abgleiten“ in eine gewalttätigere zu folgen hat. Die DDR wird gerade da wohl kaum einen deutschen Sonderweg beschreiten. Schon jetzt wird - die Jagdhäuser sind schließlich versiegelt - Jagd auf die Jäger gemacht. Wie in den denkwürdigen Sitzungen des Nationalkonvents ist die in allen, den altgedienten wie den neu zugelassenen Gazetten und Flugschriften diskutierte Frage: Was geschieht mit dem König? Welches Gesetz gilt für einen Potentaten, der vom Weltgeist höchstselbst in sein Amt eingesetzt wurde? Kann Honecker einfach so vor Gericht gestellt werden wie ein beliebiger Krimineller, wo er - ein eher bescheidener Mensch - doch nur Charaktermaske einer allmächtigen Partei war? Le peuple prusse, das preußische Volk, steht vor der Nationalversammlung und ruft nach der Laterne. Die meistgehaßten Aristokraten Mittag und Tisch sind bereits verhaftet worden - auch zu ihrem eigenen Schutz vermutlich, ebenso wie der arme Ludwig im Jahre 1792.
Aber die verarmten Ohnehosen wollen noch mehr Köpfe rollen sehen - und, wenn man Kneipengesprächen Gehör schenken möchte - keineswegs nur im übertragenen Sinne. Selbstkritik reiche nicht aus, um Schuld abzuwaschen. Die Guillotine müsse her, wird da schon getümelt - wohl auch um die große Furcht vor der eigenen Zukunft zu übertönen. Zwar haben die Leipziger sich mit den Rufen „Wir sind das Volk“ paradoxerweise vom deutschen „Volk“ zu einer autonomen, weltbürgerlichen Gemeinschaft der Citoyens gewandelt. Aber ein Rückfall in teutsche Zustände ist nicht auszuschließen: Selbst wenn die Französische Revolution im Zeitraffer durcheilt wird, steht vor der Commune zunächst einmal der Terror, und dann kommt Bonaparte.
Alexander Smoltczyk
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