: Endspiel oder Doppelherrschaft
Zu spät für die Flucht nach vorn ■ K O M M E N T A R E
Rücktritt von Krenz? Nein, zurückgetreten worden! Die Oberen fallen hinter der Geschichte her. Jener Satz von Gorbatschow - „wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ - wurde seinerzeit als Warnung mißverstanden. Es war schon das Urteil, dessen Radikalität sich jetzt mit hoher Beschleunigung entziffert. Der Rücktritt von Krenz kommt auch zu spät, ist fast schon keine Schlagzeile mehr wert. Inzwischen reißt der DDR-Staatsapparat auf wie eine einzige große Laufmasche. Der Flughafen Schönefeld als Drehscheibe des Waffenhandels: vierzig Jahre DDR-Legitimation als Friedensstaat sind dahin. Die „Jagdhütten-Recherche“ ist auch schon überholt. Inzwischen wird nicht mehr „Amtsmißbrauch“ aufgedeckt, sondern der Realsozialismus als Mafia. Es geht kaum darum, Ereignisse zu kommentieren, sondern in der beschleunigten Zeit mehr schlecht als recht auf die künftigen Ereignisse vorzubereiten.
Der Krenz-Rücktritt überdeckt nur noch, daß die Modrow -Regierung selbst in den Brennpunkt der Ereignisse gerät. Die Gemengelage zwischen dem alten Apparat und neuer Legitimation ist kritisch geworden. Sie hat schon - das ist die Quintessenz des Falls Schalck-Golodkowski - die Zeit verspielt, die alten Machthalter der Kontrolle zu unterwerfen. Die Verlustbilanz der Regierung drückt sich schon in Hunderten von Millionen an Devisen aus. Jetzt erklärt die neue Finanzministerin Uta Nickel, die Devisenschiebereien würden die Nationale Sicherheit betreffen. Deswegen seien die Ermittlungen dem neuen Amt für Nationale Sicherheit übertragen - in dem die alten Stasi -Leute sitzen. Die Antwort auf diese Geheimnistuerei kann doch nur der Sturm der Stasi-Gebäude sein. Die Reformpolitik von Modrow ist durch den Zeitverzug zum Hindernis der revolutionären Zerschlagung des Staatsapparates geworden. Der Machtkampf auf allen Ebenen hat begonnen.
Was wird aus der friedlichen Revolution? Aus der Demokratie von unten sind kollektive Ermittlungs- und Verfolgungsinstrumente entstanden. Die Zukunft einer DDR interessiert jetzt weniger als die Wirtschaftskriminalität. Ja, der Stalinismus erscheint geradezu als bloße Maske einer angstgeschützten Mafia. Der Ruf nach Wiedervereinigung ist nicht mehr - anders ist die Position der SDP nicht zu begreifen - die Sehnsucht der Massen nach besseren Zuständen. Er scheint nachgerade als der einzige Ordnungsfaktor innerhalb eines chaotisierenden Machtvakuums. Kann der „runde Tisch“, der SED-Parteitag der Geschichte eine Struktur geben, kann er Ziele und Zeitpläne, die die Massen überzeugen, überhaupt noch entwickeln? Höchst fraglich! Keine der politischen Kräfte weiß noch, an welchem Ort in der Krise sie sich befindet. Also wissen sie nicht, was sie vertreten, was wann überhaupt noch richtig ist. Doppelherrschaft, Machtkampf aller gegen alle, oder Endspiel DDR. Jetzt ist der SED-Parteitag vorverlegt worden. Aber auch diese Flucht nach vorn kann schon zu spät sein.
Klaus Hartung
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