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O P E R A T I O N W E N D E H A L S

 ■  Die Umverteilung der Vergangenheit von unten nach oben

Wie die Bundesrepublik nicht ohne Nazis aufgebaut werden konnte, so wird der Wiederaufbau der DDR nicht ohne Stalinisten vonstatten gehen - vom kleinen Mitläufer bis zum führenden Kader. Als Adenauer damals den Nazi Globke ins Ministeramt berief, setzte er damit ein ähnliches Zeichen wie das, was jetzt der ehemalige Geheimdienstchef Wolf in der „neuen“ DDR darstellt: Wer es nicht gar zu finster getrieben hat in der jüngsten Vergangenheit und aus seinen Fehlern lernt, darf mitmachen bei der Demokratie. Wie 90 Prozent der Deutschen ihren Führer stützten, so stützten 90 Prozent der DDR-Bevölkerung ihre Ulbrichts und Honeckers aktiv oder durch ihre Passivität. Der Anteil der „Wendehälse“ in der DDR nach der Novemberrevolution dürfte also identisch sein mit dem der gewendeten Deutschen nach 1945: 90 Prozent. Denn genausowenig, wie für die Untaten des Dritten Reichs nur ein paar Parteibonzen der NSDAP verantwortlich waren, darf man allein den Führern der SED die Verantwortung für den Stalinismus in die Schuhe schieben. Eben dies aber geschieht - am Rande des außerordentlichen Parteitags der SED bekundete ein Delegierter: „Ich hätte niemals gedacht, daß es zum zweiten Mal in der deutschen Geschichte wieder dauernd heißen könnte: Erstens: Ich habe nichts gewußt, und zweitens: Ich war schon immer dagegen.“

Nun mag es außerhalb der Führungskader und außerhalb der Partei sicher eine Menge Leute gegeben haben, die tatsächlich wenig wußten, die aus den verschiedensten Gründen gegen das Regime waren, sich aber aus Angst zurückhielten, und die jetzt auf Spruchbändern „Kein Rücktritt ohne Rechenschaft“ fordern. Die Art freilich, wie die Abrechnung vor allem in den West-Medien zelebriert wird, gibt zu denken: luxuriöse Bonzenvillen, schmutzige Geschäfte und der Saus und Braus der SED-Monarchen werden vorgeführt, die Zornausbrüche des „Volks“ werden dokumentiert, die „Schweine“ entlarvt. So unabdingbar es ist, daß die Schweinereien aus vierzig Jahren unkontrollierter Parteiherrschaft aufgedeckt und geahndet werden, so sehr erinnert es an die plötzliche Wende 1945, als aus einem Volk eherner Nazis von einem Tag auf den anderen eiserne Demokraten wurden: durch eine Umverteilung der Verantwortung von unten nach oben. Daß jeder selber ein kleines Ferkel war, gerät dank der fetten Schweine, die öffentlich geschlachtet werden, aus dem Blickfeld.

Wie das Nazi-Reich sich nur entfalten konnte, weil seine autoritäre Struktur bis ins kleinste Rädchen akzeptiert war, konnte auch der Stalinismus nur existieren, weil „das Volk“ sich in Parteidisziplin und Gehorsam übte, von der greisen Spanienkämpferin bis zum jungschen FDJ-Trommler. Wieder mal haben alle mitgemacht - das beweist nicht zuletzt die Geschwindigkeit, mit der der Götze, dem man bis vor ein paar Wochen tanzte und opferte, nicht nur abgesetzt, sondern gänzlich aus dem Kreise der Heiligen verstoßen wurde. Ein panischer Akt als Versuch der Selbstreinigung - wäre Honecker nicht alt und krank, er säße jetzt im Knast. Als Strafe für „persönliche Verfehlungen“, aber auch und vor allem: als Stellvertreter für seine braven Untertanen.

Mathias Bröckers

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