: Der Platz an den Fleischtöpfen wird enger
■ Nach der Öffnung der Mauer fühlen sich viele der 30.000 Westberliner Langzeitarbeitslosen existentiell bedroht / Ein Gespräch mit Hartmut Brocke, Mitarbeiter des SPI, über die Arbeit der Beschäftigungs- und Qualifizierungsprojekte nach dem 9. November
Von den 93.000 offiziell registrierten Arbeitslosen in West -Berlin sind knapp 30.000 Langzeitarbeitslose, die bereits länger als ein Jahr ohne Job sind. Hinzu kommen rund 14.000 Obdachlose, die in der Regel ebenfalls zu diesem Personenkreis gehören, aber nicht arbeitslos gemeldet sind. Das gleiche gilt für die 6.500 vorübergehend in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Beschäftigten, mit denen kurzfristig die Arbeitslosenstatistik beschönigt wird, aber zum Großteil nach Ablauf der Maßnahme wieder in der Statistik auftauchen. Somit dürfte die Anzahl des Personenkreises, die ein Jahr oder länger arbeitslos sind, bei mehr als 50.000 liegen.
Die 81 Beschäftigungs- und Qualifizierungsprojekte West -Berlins haben sich in den letzten Jahren zu einer Lobby der Langzeitarbeitslosen entwickelt. Ihnen kommt in der Betreuung der sozialen Schwierigkeiten der Langzeitarbeitslosen eine wichtige Rolle zu. In diesem Jahr sind bereits 55 Prozent der ABM-Stellen bei „freien Trägern“ angesiedelt, 1987 waren es erst 40 Prozent. Mit der Öffnung der Mauer spitzen sich die sozialen Probleme zu und stellen die „freien Träger“ vor neue Aufgaben. Die taz sprach mit Hartmut Brocke, Mitarbeiter des „Sozialpädagogischen Instituts“ (SPI) über die Veränderungen der Arbeitsbedingungen der „freien Träger“ nach der Maueröffnung.
taz: Die soziale Zusammensetzung wird neu gemischt. Wie stellt sich das in Ihrem Arbeitsalltag dar?
Hartmut Brocke: Die Hoffnung, daß durch die politischen Veränderungen in der DDR weniger Übersiedler kommen, hat sich nicht erfüllt. Der Druck ist nach wie vor groß. Allein wegen der Aus- und Übersiedler müßte alle drei Monate eine neue Grundschule und eine neue KiTa eröffnet werden.
Sie haben viel mit den „Aussortierten“ der Gesellschaft zu tun. Wie ist unter ihnen die Stimmung nach dem 9. November?
Sie haben die Befürchtung, daß sie nun total auf der Strecke bleiben, weil andere Fragen Konjunktur haben. Diejenigen, die bis jetzt zu kurz gekommen sind, fühlen sich durch die veränderte Situation existentiell bedroht.
Gibt es Begehrlichkeiten der Arbeitsverwaltung, daß Übersiedler nun in Beschäftigungs- und Qualifizierungsprojekte vermittelt werden sollen?
Bislang nicht. Es gibt aber einen anderen Druck. Die Beschäftigungsträger, die sich in den letzten Jahren in Berlin gegründet haben, überlegen sich im vorauseilenden Gehorsam, wie sie sich an dem Zeitgeist beteiligen können. Wenn die Politik eindeutige und einseitige Vorgaben macht, dann wird den Beschäftigungsträgern nichts anderes übrigbleiben, als diese Inhalte aufzunehmen.
Die „Gesellschaft für Stadtentwicklung“ (GSE) des SPI ist 1987 angetreten, mit sozial benachteiligten Gruppen Wohnraum instandzusetzen, um sie dann an diesen Kreis zu vermieten. Gibt es da noch Handlungsspielräume?
Die Handlungsspielräume werden immer kleiner, und wir sind kaum noch in der Lage, Strategien zu entwickeln, die den einzelnen benachteiligten Gruppen kurzfristig helfen können. Die Möglichkeit, überhaupt noch Wohnraum in die Verwaltung zu bekommen, ist für die GSE sehr eingeschränkt. Im kommenden Jahr werden wir zwar 800 Wohn- und Gewerbeeinheiten in der Verwaltung haben, dies sagt aber wenig über die verfügbaren Wohnungen aus. Die Fluktuation in den Häusern ist von früher 20 bis 25 Prozent auf zwei bis fünf Prozent zurückgegangen. Viel ist es nicht, was wir anbieten können. Ob wir künftig entsprechend auf die verschärfte Situation reagieren können, hängt davon ab, wie der öffentliche Haushalt neu sortiert wird. Wenn jetzt sehr viel Geld in den Ausbau des Verkehrsnetzes gesteckt wird, weil es neuen Belastungen ausgesetzt ist, können sich natürlich die Mittel reduzieren, die uns zur Verfügung stehen.
Gibt es heute noch eine nennenswerte Lobby der Langzeitarbeitslosen?
Im Prinzip sind es die gleichen Personen und Einrichtungen, die sich auch früher mit dem Problem auseinandersetzten. Nur hat die Stimme augenblicklich nicht mehr soviel Gewicht. Wir sagen immer wieder, daß man nicht die eine Problemgruppe mit der anderen erschlagen darf. Viele Langzeitarbeitslose und Obdachlose empfinden, daß die Integration der Übersiedler auf ihrem Rücken ausgetragen wird. Stichwort: Begrüßungsgeld, unbürokratisches Erschließen von Unterbringungsmöglichkeiten. Die Obdachlosen wünschen sich nun, daß man sich auch einmal so für sie einsetzt. Auch die sozialen Organisationen sitzen da und denken: Mein Gott, genauso intensiv müßte im Grunde genommen das Gesamtproblem behandelt werden.
Heißt das, daß Ihre Glaubwürdigkeit gegenüber den Betroffenen gefährdet ist, wenn diese sehen, daß bei den Übersiedlern die soziale Versorgung scheinbar reibungslos läuft?
In etwa. Wir weigern uns in der öffentlichen Diskussion zu sagen, die Übersiedler brauchen gar nichts. Wir sind der Meinung, daß ihnen geholfen werden muß, damit sie ihre Achtung und Würde bewahren können. Allerdings haben die Hilfen bereits vor der Öffnung der Mauer nicht ausgereicht. Wir sehen nun, daß mit dem 9. November der Topf für alle noch kleiner wird. Unsere Aufgabe ist es nun, dafür zu sorgen, daß dort keine Hierarchie der Benachteiligung entsteht. Unsere Sorge ist, daß im öffentlichen Bewußtsein diese Hierarchisierung in gute, mittlere und schlechte Benachteiligte schon entstanden ist und sich dieser Sozialdarwinismus im gesellschaftlichen Bewußtsein niederschlägt. Es sollte von der Politik jeder Versuch, aus der sozialen Hierarchisierung Kapital zu schlagen, unterlassen werden. Wir hatten dieses Problem ja schon früher. Bei den Flüchtlingen zum Beispiel kann man sagen, je dunkler die Hautfarbe ist, desto schlechter wird mit ihnen umgesprungen. Wir befinden uns in einer Phase wirtschaftlichen Strukturwandels, Stichwort EG, das bedeutet, daß die alten Rollen und Sicherheiten für viele Menschen nicht mehr zutreffen. Viele fühlen sich von dieser offenen Situation bedroht. Wenn Politiker ihnen dann Entlastung dadurch verschaffen, indem sie es zulassen, daß es gute, mittlere und schlechte Bedürftige gibt, dann treiben sie einen Prozeß der Polarisierung und Radikalisierung in dieser Gesellschaft. Dies geht zugunsten der Rechtsradikalen aus. Wenn dem jetzt nicht entschieden entgegengearbeitet wird, wird das Geschäft der „Republikaner“ betrieben.
Interview: Eberhard Seidel-Pielen
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