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Die Beutel voller Milka und Mamba

Zusammengepfercht in Zügen erreichen DDR-Besucher die Münchner Freiheit / Schwarz-Rot-Gold um den Hals und Schönhuber-Lob auf den Lippen ziehen Leipziger zum Hofbräuhaus  ■  Aus München Robby Fishman

„Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei. Liebe DDR -Mitbürger“, die Megaphonstimme geht im Lärm fast unter. „Sie bekommen alle ihr Begrüßungsgeld, aber bitte nicht alle auf einmal. Bitte verlassen Sie jetzt die Halle.“ Die Halle ist der „Starnberger Bahnhof“, ein Seitenflügel des Münchner Hauptbahnhofs und einzige Stelle, wo das Sozialamt der bayerischen Metropole den DDR-Besuchern das Begrüßungsgeld auszahlt. Die Luft ist zum Schneiden. Kurz vor 12 Uhr an diesem Freitag räumen Polizisten mit dicken Seilen die Bahnhofshalle. An den Schaltern geht nichts mehr.

Sabine Heißmann aus Zwickau wischt sich die Tränen aus den Augen. „Ich fühle mich, als hätte man mir das Hirn rausgerissen“, faßt sie die ersten Stunden ihres München -Besuchs zusammen. Die ganze Nacht hat sie im Zug von Karl -Marx-Stadt gestanden. „Wir hatten vier Stunden Verspätung, das war der reinste Viehtransport“, erzählt sie und gewinnt draußen an der etwas frischeren Luft langsam wieder die Fassung. Bereits in Thüringen hatten sich Leute auf die Schienen gesetzt, um noch in den völlig überfüllten Zug zu kommen. „Wenn ich gewußt hätte, was hier los ist, hätte ich auf die 90 Mark Begrüßungsgeld verzichtet und wäre zu Hause geblieben“, meint die 36jährige. Dabei spart sie doch, wie sie immer wieder erzählt, auf einen West-Videorecorder. „In Zwickau gab es mal welche, aber die kosteten über 7.000 Mark und waren sofort ausverkauft.“

Die meisten DDR-Bürger nahmen das unerwartete Chaos am Starnberger Bahnhof mit Humor. „DDR-Bürger laufen meilenweit für eine Camel-West“, meinte einer. In diesem Fall standen sie in einer fast einen Kilometer langen Schlange, die einmal durch den riesigen Hauptbahnhof reichte. Aus Leipzig kam ein Trupp von Fußballfans, die sehnlich auf die deutsche Wiedervereinigung warten. Mit schwarz-rot-goldenen Borussia -Dortmund-Schals und einer Plastiktüte in den Bundesfarben stehen sie vor der Schalterhalle in der eisigen Kälte. „Der Schönhuber, der macht sein Ding“, verkündet Kai (19), der seinen Kopf skinheadgerecht geschoren hat. Das mit „Ausländer raus“ sei schon richtig. „Die Polen kaufen uns alles weg“, ergänzt sein Kumpel Uwe (20). Auf die Frage, was sie sonst gegen Ausländer hätten, wußten sie auch keine Antwort. Aber Deutschland und die Freiheit, das sei ihnen wichtig. Jeden Montag gehen sie mit der schwarz-rot-goldenen Fahne zur Demo. „Mit der DDR-Fahne braucht sich da keiner sehen lassen.“ In München wollen sie, wie die meisten DDR -Touristen, „rumgucken und einkaufen“ - und im Hofbräuhaus ein Bier trinken.

Das besondere an der bayerischen Landeshauptstadt: Hier gibt es beim zweiten West-Besuch bis Jahresende 90 Mark Begrüßungsgeld. Der Freistaat zahlt als einziges Bundesland 40 Mark und die Stadt legt noch einmal einen Fünfziger drauf, obwohl der Rathauskämmerer wenige Tage vor diesem 8.Dezember die Pleite der Kommune angekündigt hatte. Oberbürgermeister Kronawitter (SPD) wollte deshalb jetzt auch die Notbremse ziehen und den städtischen Zuschuß stoppen. FDP und CSU waren jedoch dagegen. „Es wäre ein Armutszeugnis für München, wenn wir ausgerechnet vor Weihnachten diese kleine Wohltat streichen würden“, so CSU -Fraktionssprecher Gerhard Bletschacher. Heute wird der Münchner Stadtrat nochmals die Auszahlung des Begrüßungsgeldes diskutieren.

In der Bahnhofsmission drängeln sich die Besucher, die eine Übernachtungsmöglichkeit suchen. Ein Vater malt Autos auf einen Briefumschlag. Sein zweijähriger Sohn Stefan ist begeistert. „Eigentlich wollten wir hier nur in Ruhe das Kind füttern“, meint der Papa. Seine Frau wickelt mitten im Gewühl die wenige Wochen alte Tochter. Jetzt kriegt die Familie auch einen Platz für die Nacht.

Walter Zeiß ist ebenfalls Vater. Er sieht alles locker und posiert mit seinem Sohn vor der Kamera. München war seine Traumstadt. „Hier hat Franz Josef Strauß regiert, und der hat so viel für uns getan.“ Von SED und Sozialismus hat der „den Kanal voll. Entweder die wurschteln so weiter und es gibt irgendwann 'nen Volksaufstand oder die Wiedervereinigung kommt.“

Die Frau von Peter Schmidtke (28) wartet mit den beiden Kindern in Burgstadt auf die Weihnachtsgeschenke aus München. „Für 24 Mark habe ich eine ganze Tüte Schokolade erstanden.“ Stolz zeigt er seinen Beutel voller Milka und Mamba.

Unterdessen wird eine Frau (West), die unter Tränen unbedingt für einen ankommenden Verwandten ein Paket hinterlassen will, ruppig abgefertigt. „Wo kommen wir denn hin, wenn hier jeder sein Klump deponiert.“

Im Jugendinformationszentrum des Kreisjugendrings (KJR) suchen die Jugendlichen aus der DDR eine Übernachtungsmöglichkeit. Jugendzentren und Turnhallen in der ganzen Stadt sind zu Matratzenlagern umgebaut worden. Der KJR liefert Schlafsäcke und Isomatten. Mitarbeiterin Sibylle Annecke hat mit dem Andrang nicht gerechnet. „Da ist auch ein riesiger Informationsbedarf.“ Die meisten wollen wissen, wo es was billig gibt. „Da müssen wir uns selbst erst mal erkundigen“, meint Sibylle. Noch gebe es genug Übernachtungsmöglichkeiten, aber je näher Weihnachten rücke, desto mehr würden kommen. „Nächste Woche stehen wir auf dem Schlauch.“

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