: Sudel-Ede debütiert im Westen
Honeckers größter Lügner an Bord der 'Titanic‘ / „Das Politbüro ist auch nur ein Mensch“ ■ Von Mathias Bröckers
Frankfurt (taz) - Ein kaum glaubliches Joint-venture im publizistischen Sektor meldeten die Agenturen am Wochenende: Karl Eduard von Schnitzler, bis vor kurzem das propagandistische Maschinengewehr des SED-Fernsehens, wird Kolumnist beim Frankfurter Satiremagazin Titanic.
Ein Tiefschlag der 'Bild'-Zeitung, die nach Sudel-Edes letztem Schwarzen Kanal in einem Porträt über „Honeckers größten Lügner“ auch die Privat-Adresse veröffentlicht hatte, ging nach hinten los: Die Titanic-Redaktion unterbreitete schriftlich das „ernstgemeinte Angebot“, künftig unzensiert und gegen 500 DM pro Monat unter dem Titel „Der rote Kanal“ gegen das „Wiedervereinigungsgeschrei“ Stellung zu beziehen.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Am 11.Dezember bekundete Schnitzler sein Interesse, beurteilte die zur Probe beigelegten Titanic-Ausgaben als „lustig, ernst, unterhaltsam, interessierend und informativ“ und legte gleich das erste Manuskript bei. Es wird in der Januar -Ausgabe des Blatts erscheinen, sinnigerweise an der Stelle, wo früher die monatliche Hitliste der „peinlichsten Persönlichkeiten“ abgedruckt war. Wie derzeit alle dogmatischen Kanalarbeiter in der DDR kommt Schnitzler bei seinem Debüt im Westen nicht umhin, Fehler der Vergangenheit einzugestehen, läßt aber bei aller Rechtfertigungsprosa schon erste komische Formulierungen aufblitzen: „Das Politbüro ist auch nur ein Mensch.“
Ob das post-stalinistische Humor-Potential ausbaufähig ist, muß sich noch erweisen, ein Schritt in die richtige Richtung ist die Titanic-Initiative in jedem Falle. Nicht nur, weil das brachliegende Reservoir der Propaganda-Hardliner vom Schlage Schnitzler im Westen geradezu optimal eingesetzt werden kann, sondern vor allem, weil sich den hiesigen kalten Kanalern - von ZDF-Löwenthal bis zum Sudel-Enno in der 'Welt‘ - ab sofort glänzende Betätigungsfelder in den DDR-Medien bieten: vom Sozialisten-Witz bis zur Kommunisten -Hatz können sie dort unbeschwert loslegen und dürfen sogar mit ehrlicher Empörung rechnen.
Der generelle Austausch deutsch-deutscher Propaganda -Abteilungen könnte am Ende für beide Völker gar den großen Erkenntnisgewinn bringen, daß in Sachen PR Wiedervereinigung völlig überflüssig ist: Es ist ohnehin alles Lüge.
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