700 Vietnamesen zwischen allen Fronten

■ Zu Weihnachten weitere Flüchtlinge? / Vietnamesische Botschaft versucht massiv, die Leute zurückzuholen / Menschen dritter Klasse in Ost und West?

Die Öffentlichkeit staunte nicht schlecht, als vor gut einem Monat aus den Massen euphorisierter DDR-Besucher plötzlich über einhundert VietnamesInnen hervortraten und um politisches Asyl baten. Ihre Zahl ist trotz schärferer Kontrollen auf fast 700 angewachsen. Es wird damit gerechnet, daß zu Weihnachten weitere vietnamesische Arbeiter versuchen, nach West-Berlin einzureisen. Inzwischen versucht die vietnamesische Botschaft in Ost-Berlin, die Abwanderung ihrer Landsleute zu stoppen - bisher mit dem Versprechen, Rückkehrer hätten nichts zu befürchten. Der Ausländerbeauftragten Barbara John liegen Informationen von vietnamesischen Asylbewerbern vor, wonach Botschaftsangehörige Flüchtlinge per Auto wieder nach Ost -Berlin zurückverfrachten wollten.

Die Übersiedler aus dem fernen Osten waren im Rahmen eines Arbeitsabkommens vor zwei Jahren in die DDR gekommen. Insgesamt 60.000 VietnamesInnen leben zur Zeit in der DDR, wo sie vor allem in der Textilindustrie beschäftigt werden. Nach Angaben des Sprechers der Innenverwaltung Thronicker haben inzwischen über 600 VietnamesInnen politisches Asyl beantragt. Rund 150 sind bereits in das Bundesgebiet verteilt worden. Die anfangs entstandene rechtliche Verwirrung über die Frage, ob die VietnamesInnen nicht bereits in der DDR Schutz vor politischer Verfolgung gefunden hätten, ist damit geklärt. „Die DDR ist kein Schutzland, denn die schickt die Leute ja wieder nach Hause“, erklärt John. Ihre „Reise“ in den Westen würde ihnen als Vertragsbruch ausgelegt und hätte zur Folge, daß sie unmittelbar zurückgeschickt würden. John setzt im Fall einer Ablehnung der Asylanträge auf die Bundesregierung. „Ich hoffe, die findet dann eine andere Lösung.“

Die Flüchtlinge begründen ihre Asylanträge durchweg mit der politischen Situation in Vietnam. „Sie beklagen sich aber auch bitter über die Behandlung in der DDR“, betont Phan Phuc Vinh, Leiter des Westberliner Vietnam-Hauses. Meist in Wohnheimen ghettoisiert, schlagen ihnen von seiten der DDR -Bevölkerung die unterschiedlichsten Rassismen entgegen. Vor einigen Tagen versuchte das FDJ-Organ 'Junge Welt‘ mehr oder weniger pädagogisch mit dem Vorteil aufzuräumen, VietnamesInnen brächten Aids und Drogen ins Land. Dominierendes Reizthema ist jedoch die Warenknappheit und der automatische Vorwurf „Die kaufen uns alles weg“. „Bestimmte Waren werden uns einfach verweigert oder bei der Kasse wieder aus dem Korb genommen“, berichtet eine 21jährige Vietnamesin, die in der DDR als Näherin arbeitete. Große Illusionen über das Leben im Westen dämpft Phan Phuc Vinh bei den Neuankömmlingen. Nach dem 9. November „werden wir wahrscheinlich Menschen dritter Klasse.“

Andrea Böhm