: Blinde Flecken
Wider den Gedächtnisverlust der westdeutschen Linken / Pavel Kohout auf einer Europaveranstaltung am 18.12. in Berlin zum 76.Geburtstag von Willi Brandt ■ D O K U M E N T A T I O N
Oft ist es nur eine kleine Bewegung, die die aus den Fugen geratene Welt wieder einzurenken weiß. So auch der Kniefall des heutigen Geburtstagskindes in Warschau, der den Damm des Mißtrauens durchbrach und die Zeit der Entspannung einleitete. Zum Glück gehört der Kniende auch zu den Denkenden: Er hat mit einigen anderen Spitzenpolitikern des Westens begriffen, daß man ansonsten sehr aufrecht stehen muß, um die Macht der Finsternis in die Knie zu zwingen. Deswegen war der Jubilar auch immer sichtbar, hörbar und spürbar an der Seite jener, die Gleiches zwar gewaltlos aber konsequent in des Löwen Höhle versuchten.
Nicht so jene in Deutschland-West, an die wir ganz stark glaubten, weil wir sie für unsere logischen Verbündeten hielten. Nicht ich, Sie selbst müssen analysieren, warum Sie uns in den siebziger Jahren fallen ließen, warum Sie, statt zu den Geschlagenen zu halten, lieber mit den Schlägern paktierten oder bestenfalls neutral zusahen. Eine falsch verstandene Entspannung war es, die die deutschen Intellektuellen leider in ihrer überwiegenden Mehrheit dazu brachte, uns mit dem Stempel der Dissidenten abzutun und als Störenfriede zu behandeln.
Ausladung von Diskussionen, publizistischer und künstlerischer Boykott von Seiten der meisten Dramaturgen und Feuilletonchefs haben uns wie kalter Wind ins Gesicht geweht, alles ästhetisch begründete, versteht sich, denn auch zur Auseinandersetzung fehlte Mut.
Vor elf Jahren wurden wir zum ersten Mal tief schockiert, als Peter Chotjewitz es ablehnte, den Roman unseres Kollegen Jiri Grusa zu begutachten, wegen dem er in Haft war und verurteilt werden sollte; politische Provokation hat er unsere Bitte genannt, die seine Progressivität in Verruf bringen könnte. Und noch vor einem Jahr wurde unsere Bitte an westdeutsche Theaterkollegen, sich für die größte Dame des tschechischen Theaters, die bereits fünfzehn Jahre verbotene Vlasta Chramostova, mittels einer Matinee einzusetzen, beantwortet, wie folgt:
„Nach reichlicher Überlegung müssen wir diesen Plan einer Matinee zur Unterstützung des verfolgten Künstlers Vlasta Chramostova und Frantisek Pavlicek leider aufgeben... Der tragische Hauptgrund ist der, daß beide Künstler in München unbekannt sind, eben weil ihre Arbeit solchen Repressionen ausgesetzt war und ist, daß sie gar nicht bekannt werden konnten.“ (Auszüge aus dem Brief des bayrischen Staatsschauspiels vom 22.Dezember 1988, signiert vom Günther Erken auch im Namen von Intendant Beelitz).
Des weiteren werden Gründe aufgezählt, die den Intendanten an früherer Antwort hinderten: Das Scheitern einer Uraufführung, der Asbest-Skandal, die Probleme einer weiteren Inszenierung und schließlich das Bangen um die angeschlagene Gesundheit einer ebenfalls großen deutschen Schauspielerin. Der Brief endet:
„Es gibt eben Situationen und Phasen im Theater, wo man pragmatisch nur an den nächsten Tag und nicht an humane Projekte und moralische Forderung wie Ihren Matinee-Plan denken kann. Seien sie bitte versichert, daß nicht politisches Kalkül, Ängstlichkeit oder Bequemlichkeit unsere Absage bestimmen. Mit dem Ausdruck des Bedauerns und der Hoffnung, daß sich dennoch mit Hilfe einer anderen Institution bald in vielleicht günstigerer Konstellation ein Akt und Zeichen für Vlasta Chramostova erreichen läßt.“
Ich fürchte, besser kann man meine Behauptungen kaum demonstrieren, wobei hier der arme Herr Beelitz stellvertretend für alle Granden des deutschen Theaters herhalten muß, die meist nicht einmal reagierten.
Die „andere Institution“, die Vlasta Chramostova gerettet hat, war schließlich die Jugend der CSSR in der Konstellation der sanften Revolution.
Verehrte Kollegen, ich war noch am Freitag in Prag, wo ich diesen Auftritt mit meinen Freunden konsultierte. Wir haben uns geeinigt, daß auch dieses traurige Kapitel eine kleine, aber wirksame Bewegung braucht, die den Ereignissen in meiner Urheimat gerecht würde. Es soll diesmal ein Handschlag sein.
Die Vergangenheit soll zwar gründlich diskutiert werden, sie darf jedoch nicht länger zwischen uns stehen in einer Zeit, wo die europäische Zivilisation, ausgedehnt auf ganz Rußland und Amerika, in friedlicher Zusammenarbeit geeinigt die Probleme der Dritten Welt und unser aller Umwelt lösen kann. Wir möchten Ihnen unsere Hand anbieten und bitten Sie, uns wie in der Zeit des Prager Frühlings 1968 für geistige Verbündete zu halten, die ihre Zielsetzungen und politische Kultur soeben unter Beweis stellen.
Lassen Sie uns wieder von den Seiten Ihrer Zeitungen und von Ihren Bühnen sprechen, wir sind bereit, ihnen die unseren zu öffnen. Jahrzehntelang haben wir von einer Chance geträumt, die Welt besser zu machen. Jetzt ist sie da, lassen wir sie nicht vertun!
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