: Wirtschaftsfreizonen auch für die UdSSR
Wünsche der sowjetischen Regionalplaner: Gleich die ganze Stadt Viborg in der Nähe der finnischen Grenze soll in ein Sondergebiet ohne Gewerkschaften, aber mit vielen Devisen umgewandelt werden / Gesetzesberatungen sollen bis Mitte des Jahres abgeschlossen werden ■ Aus Helsinki Reinhard Wolff
Eine Wirtschaftsfreizone, in der Gewerkschaften verboten, Grundstücke an Unternehmen in mehrheitlich ausländischem Besitz verpachtet sind, die nach Westen offen, aber gegenüber dem eigenen Land hermetisch abgeriegelt ist? Das könnte bald Wirklichkeit werden - in der Gemeinde Viborg, nördlich von Leningrad, nicht weit von der finnisch -sowjetischen Grenze entfernt.
Zwar ist erst für Mitte dieses Jahres zu erwarten, daß das Gesetz über ökonomische Freizonen ausformuliert wird, aber bereits jetzt sind die Erwartungen in den Gebieten, die sich eine reelle Chance ausrechnen können, groß. Als der sowjetische Ministerrat vor kurzem Kommunal- und Regionalverwaltungen bat, Vorschläge für die Plazierung möglicher Freizonen zu machen, war das Echo groß. Auch Verwaltungen, die überhaupt keine rechte Vorstellung davon hatten, was gerade in ihrem Gebiet produziert werden könnte, zeigten großes Interesse, eine solche Zone zu bekommen.
Die dahinter stehende Erwartung: höherer Lebensstandard, neue moderne Arbeitsplätze, eine gut funktionierende Industrie und bessere Warenversorgung. Viborgs Bürgermeister Gennadij Veretennikow ist voller Optimismus: „Eine Freizone würde unserer Stadt und unserem Distrikt eine gut ausgebaute Infrastruktur bringen, umweltfreundliche Industrien, Tourismus mit Hotels und Campingplätzen und allem, was dazugehört.“ Und natürlich hofft der Bürgermeister vor allem auf die mögliche zehnprozentige Gewerbesteuer in konvertibler Valuta, die von den Unternehmen in die kommunale Kasse zu zahlen wäre.
Die Gegend von Viborg war der Vorschlag der Regionalverwaltung des Distrikts Leningrad an den Ministerrat. Ein Gebiet von etwa 8.000 Quadratkilometern nicht weit von der finnisch-sowjetischen Grenze entfernt. 85.000 Einwohner hat Viborg heute, 250.000 kiönnten es in einigen Jahren sein, würden sich die Träume des Bürgermeisters erfüllen. Sowjetisch-ausländische Gemeinschaftsunternehmen könnten Grundstücke in der Freizone zwar nicht kaufen, aber langfristig pachten. Der ausländische Partner eines Joint-ventures kann in der Sowjetunion mittlerweile eine Anteilsmehrheit besitzen und auch die Führungspositionben personell eigenständig besetzen.
Um ausländisches Kapital anzulocken, wird es eine Reihe von Leckerbissen für westliche Investoren geben. Darunter vermutlich: große Steuererleichterungen in den ersten Jahren nach Betriebsaufnahme. Einfuhr von Rohstoffen und Waren ohne Erhebung von Zoll und Abgaben, Steuerfreistellung für alle Gewinne, die wieder in der Sowjetunion investiert werden. Auch eine entwickelte Infrastruktur werden die Freizonen bieten müssen, um für Investoren interessant zu sein. Was es nicht geben soll: umweltverschmutzende Industrien, die sich ansonsten in besonderer Weise für ökonomische Freizonen interessieren.
„Wir werden nur Betriebe zulassen, die strengste Umweltnormen erfüllen“, hat sich Bürgermeister Veretennikow vorgenommen.
Erste Pläne, unmittelbar an der finnisch-sowjetischen Grenze eine neue Stadt aus dem Boden zu stampfen, um dort eine Freizone zu errichten, wurden nach Gesprächen mit der finnischen Regierung wieder fallengelassen: Man befürchtete Proteste von Umweltschützern, da dort ein großes Waldgebiet hätte weichen müssen. Jetzt soll es gleich eine ganze Stadt sein, Viborg mit Umgebung, mit einem schon jetzt gut ausgebauten Straßen- und Eisenbahnnetz und einem Militärflughafen, der zivil werden soll.
Der Tisch für das Auslandskapital ist schon gedeckt, wird es sich aber auch wirklich anlocken lassen? Alexander Grusinow von der Abteilung für Auslandskontakte der Provinzialverwaltung in Leningrad ist optimistisch, will aber jetzt weder Namen noch Zahlen nennen. Viele Firmen seinen noch sehr zurückhaltend, wollten warten, wie es mit den politischen und wirtschaftlichen Reformen in der Sowjetunion weitergehe. Manche Unternehmen hätten auch klar die Bedingung gestellt, daß es keine Gewerkschaften in der Zone geben dürfe. Offensichtlich will die Sowjetunion hieraus aber keine Prinzipienfrage machen. Gruzinow: Es sei ja nicht unbedingt so wichtig, Gewerkschaften zu haben. Für die Arbeiter könnten sonst von Gewerkschaften zu regelnde Fragen ja in die Arbeitsverträge aufgenommen werden.
Was auch geregelt werden soll: Zehn bis 15 Prozent des Lohns sollen die Angestellten in Joint-ventures nicht in Rubel, sondern in konvertibler Valuta ausgezahlt bekommen. Dafür sollen sie dann in speziellen Läden improtierte waren kaufen können, die es in den normalen Geschäften nicht gibt. Der dahinterstehende Gedanke: Die sowjetische Arbeitsproduktivität, unter der der meisten vergleichbaren westlichen Länder liegend, soll mit wirtschaftlichen Anreizen für die Arbeiter verbessert werden. Die Konflikte, die es zwischen Angestellten in Joint-ventures und denen in normalen sowjetischen Betrieben dann geben wird, sind bereits vorprogrammiert. Und auch innerhalb der Freihandelszone zwischen den neuen „Wohlhabenden“ und den Angestellten der Verwaltungen, Schulen, Krankenhäuser, eben allen Arbeitsplätzen außerhalb der Joint Ventures.
In China wurden solche Probleme und der Handel mit Westvaluta und privilegierten Zonenwaren dadurch eingegrenzt, daß die Freihandelszonen hermetisch vom Hinterland abgeschirmt worden sind. Nach den ursprünglichen Planungen sollte dies in der Viborg-Zone vermieden werden. Diese Pläne wurden mittlerweile revidiert: Nur die Einwohner der Zone und alle dort Arbeitenden sollen freien Zutritt haben, spezielle Ausweise hierfür ausgegeben werden.
Billige Arbeitskraft ist Hauptanreiz für Investoren, Löhne, die irgendwo zwischen dem sowjetischen und dem westeuropäischen Niveau liegen sollen. Möglicherweise ist auch der Absatzmarkt Sowjetunion interessant: Was aber hier verkauft wird, bringt Gewinn nur in nicht konvertiblen Rubeln. Die können zwar wieder investiert werden, aber nur, soweit solche Investitionen dem ausländischen Kapital gewinnversprechend erscheinen. Und welches Unternehmen wird in Viborg investieren, wenn dies nicht mindestens den gleichen Gewinn in harter Valuta verspricht, wie beispielsweise in Macao oder Taiwan?
Der Enthusiasmus ist groß in Viborg, um die vielen offenen Fragen wird elegant herumgedacht und -diskutiert. Vor Mitte dieses Jahres wird auch keine Entscheidung fallen. Aber schon wird von der ersten Warteliste mit Einwohnern aus Leningrad und anderen Orten erzählt, die schnell noch nach Viborg ziehen wollen, bevor sie kommt, die Zone.
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