: Willy Brandt-betr.: "Nicht wie in Erfurt 1970, weil die Rührung fehlte", taz vom 21.12.89
betr.: „Nicht wie in Erfurt 1970, weil die Rührung fehlte“,
taz vom 21.12.1989
Die Begeisterung Hartungs für Willy Brandt, „den Wahlkämpfer in der Masse“ und seine Losungen ist unverkennbar; eine kritische Auseinandersetzung unterbleibt. Daß Brandt ein zu guter Politiker ist, als daß er nicht wüßte, daß die maßgeblich von ihm mit ausgelöste neue Welle von Nationalismus „überschwappen“ könnte und dann auch von außen beendet würde, und er deswegen wieder moderatere Töne anschlägt, der „Einheit der Deutschen“ höhere Weihen verleiht, in dem er sie rhetorisch von der „Wiedervereinigung“ absetzt und hinter die europäische Einigung zurückstellt, bleibt Hartung als plausible Erklärung verborgen. Statt dessen Betonungen, daß „Brandt die Gefühle der Leute fand, ohne je in Demagogie zu verfallen.“ “... mit jedem Wort das traf, was die Leute hören wollten - ohne ihnen nach dem Munde zu reden.“
Da genügte schon, Brandts „Was zusammengehört, wird zusammenwachsen“ entgegenzuhalten, eine Suggestivformel, die den Menschen sehr nach dem Maul redet. Man könnte sie Willy Brandt verzeihen, wenn man daran denkt, wie er sich ein halbes Leben lang dafür abgerackert hat, nicht mehr als Deserteur und Vaterlandsverräter angesehen zu werden; in diesem Land ein nicht leichtes Unterfangen und nur durch ein „Übersoll“ an Nationalismus zu erreichen. Wenn, wenn es sich nicht um ein so gefährliches Gebiet wie den deutschen Nationalismus mit seinen obligaten „Begleiterscheinungen“ wie Rassismus und Antisemitismus u.a. handeln würde.
Es drängen sich einem aufmerksamen Beobachter bei Willy Brandt doch immer mehr Parallelen zu dem unsäglichen K.Schumacher auf, an dem W.Pohrt (Berlin 1986) exemplarisch ausführt, was „Die antifaschistische Legende als Basis völkischer Kontinuität“ bedeutet: “... daß jene Deutschen, die von den Nazis schikaniert worden waren, vor allem die Funktion hatten, die verhängnisvollen politischen Vorstellungen und Denkmuster über den Punkt der bedingungslosen Kapitulation hinüberzuretten.“
Wer sich die Mühe macht, Brandts Beitrag im 'Spiegel Spezial‘ „100 Jahre Hitler“: „Ein maßlos unterschätzter Teufel“, genauer zu studieren, wird einen unreflektierten negativen Führermythos und zahlreiche verhängnisvolle Vorstellungen wie die Sicht des Nationalsozialismus als quasi außerirdische Erscheinung finden oder folgendes: „Das Unheil nahm ohnehin seinen Lauf. Aus manchen, die H. eine gewisse Sympathie entgegengebracht hatten, wurden dann immer noch tapfere Resistenzler. Und einige, die durch für Pazifismus gehaltenen Unsinn aufgefallen waren, überschlugen sich in Verdammungen des deutschen Volkes, in denen sie nur noch lauter kleine H.s erkennen wollten.“
Und auch sehr befremdliche Äußerungen, deren psychoanalytische Interpretation noch aussteht, zum Beispiel: „In dem Milieu, aus dem ich kam, nahm man Nazis nicht ernst; man werde diese Erscheinung schon wieder ausschwitzen - wie die Antisemiten im Kaiserreich...“.
Hubertus Illner, Soest
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen