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Bulgariens rundem Tisch fehlt die Kontur

Sich auf Glasnost und Perestroika umzustellen, ist auch in Bulgarien nicht einfach / In den letzten Wochen und Monaten schossen Komitees, Bürgerrechtsbewegungen und auch Parteien wie Pilze aus dem Boden, die sich in der „Union der demokratischen Kräfte“ sammeln / Gefahr des Auseinanderdriftens  ■  Von Erhard Stölting

Von seinen Nachbarländern unterscheidet sich Bulgarien durch Diszipliniertheit und Sauberkeit - gemildert durch sozialistische Verantwortungslosigkeit. Die Häuser sind weniger vergammelt, einheimisches Obst und Gemüse gibt es zu kaufen. Bulgarien wirkt tatsächlich wie ein „Preußen des Balkans“.

1988 beschloß Todor Schiwkow, immer ein treuer Verbündeter der Sowjetunion, eine eigene radikale Perestroika. Aber die Wirtschaftsreformen wurden halbherzig durchgeführt, und es blieb bei Korruption und Maulkorb. Seit Schiwkows Sturz am 10.November haben die Medien auf Glasnost umgeschaltet, formiert sich die Opposition und behelligt die Polizei kaum noch Verkehrssünder. Die Menschen beginnen in immer größerer Zahl zu demonstrieren.

Das Dach ist die „Union“

Die große Kundgebung am 10.Dezember, der sich viele kleinere anschließen sollten, war von der „Union der demokratischen Kräfte“ veranstaltet worden, einem Zusammenschluß von elf autonomen Vereinigungen. Sie hatte sich erst drei Tage vorher konstituiert. Vorsitzender wurde Schelju Schelew, in dem viele schon das künftige Staatsoberhaupt sehen.

Gemeinsam verlangten die vereinigten Unabhängigen die parlamentarische Demokratie, Presse-, Organisations- und Versammlungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Parteienpluralismus und volle Marktwirtschaft. Im übrigen bleiben die Gruppen autonom.

Eine „Unabhängige Studentengemeinschaft (NSD)“ fordert neben Demokratie eine Entideologisierung des gesamten Studienbetriebs. An der Universität Sofia ist sie schon stärker als der Komsomol. Dem nützt inzwischen sein Umschwenken auf Reformkurs kaum noch etwas. An mehreren Instituten hat er sich schon aufgelöst.

Die „gewerkschaftliche Unterstützungsgesellschaft Podkrepa“ („gegenseitige Hilfe“ bzw. „Solidarität“) hatte am 10.November etwa 50 Mitglieder - meist Intellektuelle. Gegenwärtig wächst Podkrepa in rasantem Tempo. Nach Angaben ihres Sprechers in Sofia, Dr.med. Trentschew, hatte Podkrepa Mitte Dezember 30.000 Mitglieder im ganzen Land; die Zahl dürfte heute wesentlich höher liegen. Angestrebt wird eine dem Aufbau des DGB ähnliche Struktur mit selbständigen, nach Berufsgruppen organisierten Einzelgewerkschaften. Für Streiks ist die neue Gewerkschaft noch zu schwach, aber sie droht schon.

Klein hingegen ist die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Bulgariens“. Sie beansprucht die Arbeit ihrer 1948 unterdrückten Vorläuferorganisation wieder aufzunehmen. Einige der alten Mitglieder tauchten tatsächlich wieder auf

-sie sollen nach Augenzeugenberichten altmodisch, aber professionell gewirkt haben.

Klein ist auch die zweite Partei, die „Landwirtschaftsunion Nikola Petkow“. Auf Petkow, der 1948 als „Spion“ hingerichtet wurde, beruft sich jetzt allerdings auch die offizielle Agrarunion, die den großen Staatsmann in ihrem Organ „Semedelsko Zname“ vom 13.Dezember auf zwei Seiten z.T. durch alte Mitstreiter feiern ließ.

Dem Selbstverständnis der „Bürgerinitiativen-Bewegung“ nach bedarf es, solange das Mehrparteiensystem nicht zugelassen ist, einer Vertretung der Bürger, die die Entscheidungen der Machthaber öffentlich diskutieren und einen Dialog mit ihnen führen kann. Das „Komitee der nach 1945 ungesetzlich Unterdrückten“ ist eine Organisation ehemaliger politischer Gefangener aller Altersstufen. Die „Unabhängige Vereinigung zur Verteidigung der Menschenrechte“, die mit der offiziellen Menschenrechtsorganisation konkurriert, hielt ihre erste öffentliche Versammlung am 19.Oktober im Juschenpark von Sofia ab, die noch auseinandergeknüppelt wurde. Sie hatte damals noch etwa 20-30 Mitglieder.

Es sind jedoch vier andere Organisationen innerhalb der „Union“, anhand derer sich das Spektrum oppositioneller Gruppierungen in Bulgarien am besten verdeutlichen läßt.

Die intellektuelle Prominenz

Den Namen „Klub für Perestroika und Demokratie“ statt wie früher „Perestroika und Glasnost“ nahm der „Klub“ erst am 3.Dezember nach stürmischen Diskussionen darüber an, ob man wie bisher ein exklusiver Prominentenverein bleiben oder sich anderen Bevölkerungskreisen öffnen solle. Eine knappe Mehrheit mit Schwelju Schelew an der Spitze betonte, daß der „Klub“ von Anfang an eine politische Organisation gewesen sei und sich nun auch dazu bekennen solle. Inzwischen haben sich je eine Kommission zu Fragen der Wirtschaft, der Verfassung und der Nation gebildet, die jenes Programm entwickeln sollen, über das der „Klub“ bisher nicht verfügte.

Gegründet wurde er am 3.November 1988 durch etwa 100 Intellektuelle und Künstler. Nur Prominente wurden aufgenommen, weil so Schikanen im In- und Ausland mehr Aufmerksamkeit erregen würden; die Bekanntheit sollte Schutzschild sein. Viele Mitglieder hatten überdies ausgezeichnete Kontakte in die offiziellen Machtsphären. Der Staat reagierte dennoch. Ende Mai, als der „Klub“ öffentlich demokratische Reformen einforderte, erreichten die Schikanen einen Höheunkt. Zwei Institute der Akademie, die für Philosophie und Kultur, wurden aufgelöst. Viele wurden arbeitslos. Meist beschränkten sich die Belästigungen auf „freundschaftliche Unterhaltungen“ bei der Polizei oder vor Parteigremien. Eine offene Arbeit war unter diesen Bedingungen jedoch unmöglich. Allein der Führungszirkel traf sich noch in Privatwohnungen.

Ein Schlaglicht auf die politische Konstellation wirft der folgende Konflikt: Am 18.Juli protestierten 121 Intellektuelle gegen die Unterdrückung der Türken. Sie beriefen sich auf die traditionelle bulgarische Toleranz sowohl auf den geistigen Vater der Nation, Wasil Lewski, der ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Bulgaren, Türken und Juden gefordert hatte, als auch auf die Rettung der Juden während des Krieges. Mitglieder des „Klub“ verfaßten daraufhin eine eigene, noch schärfere Erklärung. Manche Mitglieder blockten allerdings aus taktischen Gründen ab. Andere verurteilten nicht die Assimilation, sondern nur die Methoden, sie durchzusetzen. Erst als die Verfasser drohten, den „Klub“ zu verlassen, kam es nach eineinhalbmonatiger Verspätung am 4.August zu 120 Unterschriften unter das Manifest des „Klub“ und zur Verbreitung über „Radio Free Europe.“

Nun versuchte die Regierung, den „Klub“ politisch zu isolieren. Die BKP und die alle offiziellen politischen Kräfte zusammenfassende „Vaterländische Front“ organisierten Massendemonstrationen. Die Anklage lautete: „Vaterlandsverrat.“ Im „Klub“ ziehen es die nationalistisch gesonnenen Mitglieder gegenwärtig vor, zu schweigen.

Einsame Mosleme

Noch immer kommt auch auf den demokratischen Massenversammlungen Verlegenheit oder Mißfallen auf, wenn die Unterdrückung der Moslems angesprochen wird. Dabei hat ihre Massenauswanderung im Sommer 1989 die wirtschaftlichen Probleme erheblich verschärft, vor allem im Bauwesen, im Bergbau, Gemüse- und Tabakanbau und in der Viehzucht. Volkes Stimme behauptet, die Schuld dafür läge bei den Türken.

Angesichts dieser Stimmung war die Gründung eines „Komitees für nationale Versöhnung“ am 7.Dezember mutig. Sein Initiator, der Atomphysiker Michail Iwanow, hatte schon 1985 öffentlich gegen die Zwangsmaßnahmen gegenüber den Türken protestiert. Nach wenigen Tagen war das „Komitee“ auf 70 Mitglieder angewachsen, darunter zehn Arbeiter. Allerdings will es keine Massenorganisation werden, sondern Ideengeber bleiben. Das wird ihm allerdings schwerfallen, denn das „Komitee“ zieht Hoffnungen der muslimischen Bulgaren auf sich.

Erst Schiwkow hat die nationalistische Repression in Gang gebracht. Zunächst traf es in den sechziger Jahren die traditionell der Politik fernstehenden Zigeuner, von denen etwa die Hälfte Moslems sind. Sie konnten sich nicht wehren. 1971 bis 1973 mußten die etwa 200.000 bulgarischsprachigen Moslems, die Pomaken, ihre Namen ändern. Ihr Widerstand wurde zum Teil blutig unterdrückt. Auch diese Aktion gelang. Die türkische Minderheit solidarisierte sich nicht, und die ganze Aktion blieb so geheim, daß außerhalb der pomakischen Gebiete nichts bekannt wurde. Allerdings wurde den Pomaken nun ihre Besonderheit bewußt. Heute kämpfen sie nicht nur für die Rückgabe ihrer Namen, sondern auch für die Anerkennung als eigenständige Minderheit.

Die Aktion gegen die knapp eine Million Türken von 1984/85 war dagegen nicht zu verheimlichen. Mit einer Fülle tückischer Legenden, Gerüchte und Taktiken wurden die interethnischen Beziehungen vergiftet. Gegenwärtig sind die Türken politisch wenig handlungsfähig. Ihre intellektuellen Führer vertrieb man in die Türkei.

Ökologie und „Ekoglasnost“

Einen ersten Durchbruch für die gesamte Opposition bedeutete das öffentliche „Ekoforum“, das am 20.Oktober 1989 in einem Kino Sofias stattfand und an dem 700-800 Personen teilnahmen. Es brachte auch die Organisation „Ekoglasnost“ ins Rampenlicht, die seit über einem Jahr bereits intensiv gearbeitet hatte. Nun wuchs sie von 100 Mitgliedern auf 2.000. Mitte Dezember waren es allein in Sofia 4.000. „Ekoglasnost“ wurde als erste unabhängige Gruppe am 11.Dezember offiziell zugelassen. Diese Zunahme hat vorläufig Organisationsprobleme verursacht.

Immerhin hat der Zustrom auch qualitative Auswirkungen. Unter den 100 alten Mitgliedern befanden sich 20 Wissenschaftler, andere kooperierten aus Furcht nur heimlich. Jetzt sind, nach Angaben von „Ekoglasnost“, Hunderte von Spezialisten, einige davon in sehr hohen Positionen, dazugekommen. Ihr Sachverstand soll in projektorientierten Arbeitsgruppen gebündelt werden. Um sich eine möglichst breite Basis zu erhalten, soll „Ekoglasnost“ keine Partei werden. Viele halten allerdings eine ökologisch orientierte Partei außerhalb von „Ekoglasnost“ für sinnvoll.

Begonnen hat es im Dezember 1987 in Sofia mit der Vorführung eines Dokumentarfilms über Umweltverseuchungen durch Chlorgas und Protestdemonstrationen in Ruse. Anfang März 1988 hatte die Organisation zwar schon etwa 5.000 Mitglieder. Aber Massenbewegungen wurden damals noch zerschlagen.

Daher gründeten die Übriggebliebenen am 20.April 1989 die kleinere Vereinigung „Ekoglasnost“. Überraschenderweise durfte sie - anders als die Menschenrechtsgruppen Versammlungen in Privaträumen abhalten. Das ermöglichte eine erfolgreiche - teilweise auch klandestine - Arbeit.

Die in einem „Schwarzbuch“, das ständig ergänzt werden soll, ausgebreiteten Fakten sind so haarsträubend wie ökologische Fakten fast immer. So sollte Wasser aus den Rila -Bergen, das zu 3/4 nach Griechenland fließt, zum Teil in jene Metallfabriken Sofias umgeleitet werden, die aus Umweltgründen längst hätten geschlossen werden sollen. Ein anderer Teil dieses Wassers sollte in die thrakische Ebene geleitet werden, ein Gemüseanbaugebiet, das bereits überwässert ist. Da die Folgen in jedem Falle wirtschaftlich und ökologisch fatal wären, blieben die Pläne streng geheim

-bis sie jemand im Ministerrat stibitzte. Dank „Ekoglasnost“ gibt es nun wenigstens eine parlamentarische Untersuchungskommission.

Wie der Reaktor von Kosloduj aus den sechziger Jahren, der stillgelegt werden soll, liegt der von Belene in einem Erdbebengebiet. Der Abfall ist ungenügend gesichert. Seitdem die Sowjetunion, die ihn bisher für den Bombenbau verwendete, verzichtet, weiß niemand wohin damit.

Gegen harte Devisen verbrannte Bulgarien zehntausende Tonnen Tabak aus Italien und Griechenland. Entgegen ersten Vermutungen war er nicht radioaktiv, sondern durch Chlor verseucht. Seit zwei Jahren wird Phosphat aus Marokko zu Düngemitteln verarbeitet, das so uranhaltig ist, daß es in AKWs verarbeitet werden könnte. In den Damm von Topolniza wurde stark arsenhaltiger Abraum einer nahen Kupfermine eingeschüttet, der nun das Wasser, das auf die Gemüsefelder kommt, vergiftet.

Bei der Untersuchung des Schwarzen Meeres kooperiert „Ekoglasnost“ mit sowjetischen Umweltgruppen. Zu entsprechenden türkischen werden noch Kontakte gesucht. Und natürlich sollen die Jagdgründe Todor Schiwkows, in denen auch Franz Josef Strauß auf die Pirsch ging, zu Nationalparks werden.

Die religiösen Freiheiten

Viele Kundgebungen beginnen mit einem orthodoxen Kirchenlied. Stets redet auch der wortgewaltige Mönch und ehemalige Physiker Christofor Subew. Er vertritt das „Komitee für religiöse Rechte, Freiheit des Bewußtseins und geistige Erneuerung“.

Gegründet wurde es im Herbst 1988 von Petar Kanew in Schumen, Kontakt zu anderen Oppositionsgruppen nahm es erst anläßlich des „Ekoforums“ auf. Es steht außerhalb des Netzes von Intellektuellen, die die anderen Gruppen in der „Union“ initiierten. Es sind auch ganze andere Menschen, die sich an Subew wenden und seine Hände küssen.

Dem „Komitee“ geht es um Demokratisierung und die Abschaffung jeder staatlichen Diskriminierung der Religion; die Kirchen sollen in den Medien werben, Jugendarbeit leisten und karitativ wirken dürfen. Schließlich geht es um den Kampf gegen den Atheismus. Obwohl es nicht ökumenisch ist, steht das „Komitee“ damit allen Religionsgruppen offen. Moslems sind allerdings nicht vertreten. Sie seien ein politisches Problem und kein religiöses, meint Christofor Subew.

Das „Komitee“ hat nicht nur den Staat, sondern auch die Kirche gegen sich. Subew wurde, seitdem er 1988 politische Prozessionen in Tirnowo veranstaltet hatte, nicht nur von der Polizei schikaniert; er wurde zum einfachen Mönch zurückgestuft und für zwei Monate in einem Kloster isoliert. Noch am 3.März 1989 distanzierten sich der Patriarch und alle Metropoliten offiziell vom „Komitee“. Obwohl dessen Aktivisten die geistlichen Oberhäupter daher als „gekauft“ gelten, erheben sie keinen Ruf nach einer Perestroika der Kirche. Sie sei den Aposteln von Christus gegeben. Es gehe um Reinigung, nicht um Umsturz, um die Rückkehr zum ursprünglichen Geist der Brüderlichkeit und der Gemeinschaft in Gott. Nur so könne die rechtgläubige Kirche stark werden, das bulgarische Volk sittlich erheben und es wirklich demokratisch und zivilisiert machen. Inzwischen haben zwei Metropoliten zu Subew Kontakt aufgenommen.

Tendenzen

Noch immer ist die weitere Entwicklung schwer abzuschätzen. Die Dominanz der Intellektuellen, die sich vor dem 10.November 1989 zu einem Netz von Organisationen zusammenfanden, gerät durch den organisatorischen Durchbruch in Gefahr. Viel weniger als sie orientieren sich diese nun angstfreien Menschen an dem, was in der Partei geschieht. Die neuen politischen Führer der BKP, Mladenow, Lukanow oder Lilow wecken ein geringes Interesse. Die Massen radikalisieren sich in einer Weise, die die Intellektuellen nicht vorhergesehen haben.

Unter den mindestens fünfzig autonomen Vereinigungen, die es inzwischen geben soll, finden sich sogar Monarchisten. Viele dieser Vereinigungen haben jedoch kaum mehr Mitglieder als ihre Gründer. Noch verfügt die Opposition über wenig bekannte und kompetente Führungspersönlichkeiten. Jetzt, wo der „runde Tisch“ beginnt, wird die Opposition vor dem Problem stehen, ihn mit kompetenten Personen zu besetzen. Vielleicht auch kommen noch Strömungen auf, mit denen die liberalen Intellektuellen noch nicht rechnen. Es gibt ein nationalistisches und ein orthodoxes Potential, das noch an Kraft gewinnen kann.

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