piwik no script img

Israel-betr.: "Die Russen kommen - nach Israel", taz vom 4.1.90

betr.: „Die Russen kommen - nach Israel“, taz vom 4.1.90

Der Artikel ist mehr als vorsichtig, wenn es darum geht, die „erheblichen Probleme“ der Masseneinwanderung von einer Million sowjetischer Juden aufzuzeigen. Da ist nur die Rede davon, daß die „finanzielle Seite der Aktion“ bei der Jewish Agency ungeklärt sei, daß die betreffenden „Massen“ keine zionistischen Ziele verfolgen, sondern lediglich „mehr Freiheit und einen höheren Lebensstandard“ wollen und deshalb vielleicht doch die USA als Einwanderungsland vorziehen und schließlich, daß die PLO eine „Gefahr für den Friedensprozeß“ sieht. Meines Erachtens kann eine linke Zeitung so etwas nicht kommentarlos stehen lassen, wenn sie die Nachricht schon an prominenter Stelle auf der zweiten Seite bringt.

Was bedeutet es, wenn in Israel, „die Russen kommen“?

Im letzten Frühjahr war in Italien eine große Zeltstadt als Zwischenstation für sowjetische Juden auf ihrem Weg in den goldenen Westen aufgebaut. Israelische Werber versuchten, sie nach Israel umzulenken. Das ist mißlungen. Die Mehrheit wollte in die USA. Damit ist die Annahme bestätigt: Die Auswanderer haben keine politischen Ziele, nur den Wunsch nach einem besseren Leben, das sie für sich heute eben nicht in Israel gewährleistet sehen. Nach dieser Erfahrung versucht die Politik verstärkt ins Spiel zu kommen, um „die Massen“ gegen ihren Willen zu bewegen. Die Einwanderungsquote der USA liegt bei 50.000 Personen im Jahr. Wenn mehr aus der UdSSR ausreisen dürfen, müssen sie sich etwas anderes suchen. Und Israel bietet sich an, ungeachtet seiner wirtschaftlichen Probleme und der hohen Arbeitslosigkeit.

Die Frage ist, wer agiert hier und warum, wenn es darum geht, die „Massen„ströme zu regulieren, ohne das Interesse der Einzelnen in der sogenannten Masse zu berücksichtigen? Da gibt es einmal ein sogenanntes bevölkerungspolitisches Argument. Israelische Regierende fürchten die arabische „Überfremdung“ der jüdischen Bevölkerung, und das schon lange. Über 600.000 Palästinenser leben in Israel, ca, 1,5 Millionen in den besetzten Gebieten, der Westbank und in Gaza. Ihnen wird die größere „Fruchtbarkeit“ nachgesagt, was mit Sicherheit nicht für alle palästinensischen Gruppen richtig ist, und ebensowenig, wenn man sich im Vergleich die „Fruchtbarkeit“ der orthodoxen jüdischen Gruppen ansieht. Es ist wohl eher so, daß hier säkulare gegen religiös und traditionell orientierte Bevölkerungsteile stehen. Das Argument der „Überfremdung“, das sich das Aussehen geben möchte, es sei statistisch und bevölkerungspolitisch fundiert, steht im Dienst der Besatzungspolitik und politisch rechter Gruppen'die die Palästinenser vertreiben wollen. Denn: Was würde es ausmachen, wenn der arabische Bevölkerungsteil selbst in Israel in den Grenzen von 1967 heute den jüdischen Anteil überschreiten würde, wenn es so wäre, daß Juden und Araber friedlich zusammenleben könnten, und wenn die zionistische Ideologie des jüdischen Staates die gleichberechtigte Existenz eines anderen Volkes ohne Einschränkungen zulassen würde?

In einer Situation, in der die israelische Regierung nicht nur als Bremser in Friedensverhandlungen agiert, sondern jede Lösung verhindert, um Zeit für die Unterdrückung der intifada zu gewinnen, sollen eine Millionen jüdische Sowjetbürger zur Einwanderung nach Israel bewegt werden. Als die Nachricht in Israel im November im Fernsehen verbreitet wurde, war ich gerade bei einer palästinensischen Familie zu Gast. Man erstarrte: Wo sollen diese eine Million Menschen leben? Israel ist klein. Ca. vier Millionen Menschen, inklusive der Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft leben in einem Gebiet etwa von der Größe Hessens. Israel hat große wirtschaftliche und Arbeitsmarktprobleme. Selbst in der reichen Bundesrepublik sind schon eine viertel Million „Übersiedler“ schwer zu verkraften, wie wir gerade sehen. Der Verdacht drängt sich auf: Israel verfolgt gegenwärtig chauvinistische Besatzungspolitik. Israel wird versuchen, diese Einwanderer zur Bewegungsmasse dieser Besatzungspolitik zu machen und das heißt auch, so viele wie möglich in den besetzten Gebieten anzusiedeln. Schließlich sei das gesetzte Ziel von 100.000 jüdischen Siedlern, die im politischen Kalkül der harten Zionisten eine wirksame Kraft gegen die politische Strategie des „Land gegen Frieden“ darstellen, noch nicht erreicht (bisher sind es etwas mehr als 80.000). Deshalb fürchtet die PLO gegenwärtig diese Einwanderungspolitik zu Recht als Gefahr im Friedensprozeß; und deshalb haben die vielen einzelnen sowjetischen Auswanderer recht, die sich nicht zum Material einer chauvinistischen Politik machen lassen wollen und lieber sonstwohin als jetzt nach Israel gehen - wenn sie eine andere Wahl haben, und keine harten Zionisten sind.

Name ist der Red. bekannt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen