: Die masochistische Opferhaltung der Kreuzberger Szene
■ Zu den Anschlägen der letzten Monate in SO36 auf Einrichtungen und Personen im Kiez
Hinter vorgehaltener Hand sind sich inzwischen in Kreuzberg nahezu alle einig. Die Randale und die Anschläge der letzten Monate haben mit Politik nichts mehr zu tun. Selbst die Linksaußen aus dem Wrangelkiez und dem „Heilehaus“ ließen in der Silvesternacht resigniert und ärgerlich die Mullbinden fallen und weigerten sich, Leute zu verbinden, die ihren blutenden Kopf fürs internationale revolutionäre Image brauchen.
Die Anschläge werden verübt von Leuten, die weder den Kiez kennen, und die oft im Kiez auch keiner kennt. Sie glänzen zudem mit Unkenntnis nicht nur der geographischen, sondern auch der politischen Verhältnisse, wenn sie beispielsweise erwägen, die Backsteinfabrik besetzen zu wollen. Oder behaupten, Volker Härtig wohne in der Hausnummer vier, die es in der Görlitzer Straße gar nicht gibt. Viele kommen als Jungtouristen aus Holland, England, Italien und dem Baskenland, die Nachfolgegeneration der Landjugend aus Baden -Württemberg. Nun sollte man meinen, daß ein Kiez in der Lage ist, sich dagegen zu wehren, zum Abenteuerspielplatz erklärt zu werden. Kreuzberg nicht. Zwar mehren sich die verbalen Distanzierungen und Verurteilungen, doch was geschieht wirklich?
Noch immer funktioniert das schlechte Gewissen der Linken. Alles, was sich selbst als „revolutionär“ bezeichnet, und auch nur allerplattest vorbringt, gegen „das Kapital“ und „die Herrschenden“ zu sein, wird politisch ernst genommen. Alleine die Schlüsselbegriffe reichen, um die Reflexe der linken Identität zu aktivieren. Das Muster heißt Lagermentalität, die Realität ist Vogel-Strauß-Politik und Konfliktvermeidung - um fast jeden Preis. Mit der unaufgearbeiteten eigenen Entwicklung hin zum pragmatischen Reformismus stellen sich die Kreuzberger selbst ein Bein. Wenn die Alternative Liste Kreuzberg nach vier Monaten nicht in der Lage ist, die Besetzer aus ihrem Büro zu werfen, ist das eine Bankrotterklärung und die eigene politische Selbstaufgabe. Man erkennt die Ziele und Praktiken der anderen als politisch wichtiger an und tritt zurück. Das ist sicher nicht die Absicht, aber das Resultat.
Wenn der Mieterverein, nachdem eine Mitarbeiterin bedroht wurde, keine Strafanzeige stellt, ist diese Angst zwar verständlich. Aber bei dem Überfall sollten Mieterakten geklaut werden. Hier ging es nicht um den Angriff von wütenden Besetzern gegen eine gehaßte Institution. Es ging um den Angriff auf Persönlichkeitsrechte von völlig Unbeteiligten. Es grenzt an mafiose Strukturen, wenn sich Leute mit kriminellen Methoden einen Vorteil über gleichberechtigt neben ihnen Lebende verschaffen wollen. Besetzer gegen Mieter - das war das Letzte, was die Szene im Kiez je wollte. Keine Strafanzeige zu stellen - und wie könnte man einen gewalttätigen Konflikt sonst lösen, akzeptiert man nicht das Faustrecht, heißt in der Konsequenz, diese Praktiken zu akzeptieren. Es ist die ohnmächtige Kapitulation vor dem Terror.
Der Wunsch, aus Kreuzberg eine „bullenfreie Republik“ zu machen, war ein gut gemeinter Traum. Zu wünschen, zumindest in einem Stadtteil könnten die Menschen ihre Konflikte untereinander und ohne Staatsmacht lösen, bleibt weiter richtig. Doch das ist eben derzeit keine Realität, und der Versuch, so zu leben, ist fürs erste gescheitert. Denn alleine das Gewaltmonopol des Staates nicht anzuerkennen und daraus abzuleiten, daß Polizei nicht als Schlichter und Instanz zur Konfliktregelung in Anspruch genommen werden darf, reicht nicht. Diese „Lücke“ im Selbstverständnis der links-alternativen Szene wird schon seit Jahren von Gruppen genutzt, um sich persönliche Vorteile zu verschaffen. Die Methoden und die moralische Haltung, mit der dies zunehmend geschieht, ist allerdings alarmierend. Wenn wieder einmal Personen als „Schweine“ ausgegrenzt werden sollen und damit ihnen gegenüber alles erlaubt, jede Selbstjustiz gerechtfertigt sein soll, muß das rote Warnlicht angehen. Indem die Szene nichts tut, definiert sie sich selbst als willenlos. Schon immer war es auch der Masochismus der Opfer, der der Entwicklung von Tätern Raum gab. Es scheint idealistisch und traumtänzerisch, zu wünschen, der Kiez könnte aus dieser Situation heraus die Energie entwickeln, all dem etwas entgegenzusetzen. Denn dieses „Etwas“ - soll es langfristig und dauerhaft sein - kann nur in einem entschiedenen, friedlichen, öffentlichen Klima bestehen. Nur eine Art „aktive Bürgereinmischung“, eine Einigung innerhalb der Szene jenseits der politischen Meinungsverschiedenheiten, brächte dies zustande. Nach den Jahren des gegenseitigen Mißtrauens und der scharfen innerlinken Abgrenzungen kaum denkbar.
Gelingt das nicht (wenn es überhaupt versucht wird), werden spätestens am nächsten 1.Mai die Wannen und Wasserwerfer des Innensenators in Kreuzberg für „Frieden“ sorgen. So mancher wird sich dann unbehaglich sicher fühlen.
Brigitte Fehrle
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