: Ein Lob der Identitätskrise
Die Linke in der Bundesrepublik und das Scheitern des realen Sozialismus ■ G A S T K O M M E N T A R
Auch der (größere) Teil der westdeutschen Linken, der seit Jahren (um nicht zu sagen, seit Jahrzehnten), die Realität des realen Sozialismus kritisiert und dafür von einem anderen (kleineren) Teil der Linken nicht nur intellektuelle Prügel bezogen hat, merkt nach der anfänglichen Begeisterung über die „Novemberrevolution“, daß alle, die sich heute noch Sozialisten nennen, mitgefangen sind. Ein Un-Wort ist entstanden, das in das Orwellsche Gedächtnisloch geworfen wird. Realität und Idee des Sozialismus sind, wie es in der DDR überall zu hören ist, „diskreditiert“ und mit ihnen auch die Sozialisten jedweder Couleur in der BRD.
Von Planung will niemand mehr etwas wissen, der Markt wird am Ende des 20.Jahrhunderts auch von der Linken als die größte Invention der Menschheitsgeschichte entdeckt. Wegen dieser gewichtigen Entdeckung kann man den Ballast der Erkenntnisse von Marx bis zur Frankfurter Schule nicht mehr gebrauchen und ihn getrost über Bord werfen. Bürgerliche Freiheitsrechte werden mit der gleichen Emphase wie in der Französischen Revolution 200 Jahre danach gepriesen, so als ob die Geschichte einen Sprung ins Posthistoire gemacht hätte. Daß nicht nur Marx sondern auch die tragische Geschichte der bürgerlichen Welt gezeigt hat, wie widersprüchlich und daher gefährdet eben diese bürgerlichen Freiheitsrechte in bürgerlichen Gesellschaften sind, ist von den Trümmern des „realen Sozialismus“ zugeschüttet worden.
Walther Müller-Jentsch macht in einem Gastkommentar in der taz (13.1.90) den Zeitschriften 'Prokla‘ und 'Leviathan‘ („Flaggschiffe der undogmatischen westdeutschen Linken“ Danke für das Kompliment!) einen Vorwurf. Es sei Zeichen von „Identitätskrisen (im Plural!), die die linke Intelligenz verstummen lassen“, wenn sie sich in dieser Zeit mit der Französischen Revolution und Problemen der Arbeitslosen auseinandersetzten und nicht mit der Perestroika in den ehemals „real-sozialistischen“ Ländern. Tatsächlich, angesichts der Umbrüche in den gesellschaftlichen Institutionen und der Zweifel an Begriffen, mit denen wir (alle) die gesellschaftlichen Verhältnisse bislang zu be -greifen versucht haben, wäre keine Identitätskrise zu haben, ein schlechtes, ein trauriges Zeichen. Es verwiese darauf, daß die Linke ohne Identitätskrise auch keine Identität gehabt haben und nur irgendwie linke Breitbräsigkeit ihr eigen nennen kann.
Identitätskrisen“ bei anderen festzustellen ist erstens einfach und zweitens dumm. Einfach ist dies, weil der Herr Kommentator sich dem schwierigen und kollektiven Prozeß, eine linke Identität zu erarbeiten, entzieht und aus der Mitte postmodernen Schwachsinns „Ätsch“ rufen kann. Dumm ist dies, weil auf einmal ein Vorurteil (über die Französische Revolution, den Markt etc.) durch die Ereignisse in den Rang des Urteils der Geschichte gehoben wird. Und richtig deutsch -autoritär ist dies obendrein, wenn der Kommentator seine Sichtweise der Zeitläufe als verbindlich für alle anderen erklärt. Er müßte noch lernen, warum die Menschen in der DDR rebelliert haben.
Elmar Altvater
P.S.: Im übrigen kann ich als Mitglied der 'Prokla‘ versichern, daß die nächste Nummer (vorbereitet seit dem Frühjahr 1989, erscheinen wird sie Anfang März - so lang sind unsere Produktionszeiten) „Probleme des Sozialismus“ diskutieren wird. Linke mit „Identitätskrisen“ sind obendrein zu einem Seminar (mit Referentinnen aus der BRDDR) eingeladen, das die 'Prokla‘ Anfang März zu eben diesen Problemen in der Nähe von Dortmund durchführen wird.
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